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9.8.2024 - Anne-Katrin Wehrmann

Alter schützt vor Digitalisierung nicht

Pressedienst

Wie ein pensionierter Professor Älteren zu mehr digitaler Teilhabe verhilft

Mann hält Laptop vor sein Gesicht, auf dem er selbst zu sehen ist
Herbert Kubicek will älteren Menschen einen besseren Einblick in die digitale Welt geben. © WFB/Hake

Ob Online-Banking oder Technologien im Gesundheitswesen: Wer bei der Digitalisierung den Anschluss verliert, ist schnell auch im analogen Leben abgehängt. Älteren Menschen fehlt jedoch häufig die Praxis. Der Bremer pensionierte Professor Herbert Kubicek setzt sich dafür ein, dass sich das ändert.

Das Internet ist so etwas wie sein zweites Zuhause: Herbert Kubicek ist jeden Tag fünf bis sechs Stunden im Internet unterwegs. Als Wissenschaftler betreibt er seinen eigenen Blog „Digitale Teilhabe 65 plus“ und als Musikliebhaber einen Onlineshop für alte Schallplatten. Schon seit vielen Jahren forscht der 77-jährige Bremer zur digitalen Teilhabe älterer Menschen, 2002 war er Mitbegründer der bundesweiten Stiftung Digitale Chancen.

Aufgrund seiner Expertise ist der pensionierte Professor ein gefragter Interviewpartner in überregionalen Medien. Er wird nicht müde, sich für Menschen einzusetzen, die zwar in seinem Alter sind, aber längst nicht so digital affin wie er: „Wissenschaft, die aus Steuermitteln finanziert wird, muss sich auch um die Benachteiligten kümmern“, findet Kubicek. „Und in Sachen digitale Teilhabe sind Seniorinnen und Senioren ganz eindeutig benachteiligt.“

Alterslücke bei der Nutzung des Internets

Seit seiner Pensionierung im Jahr 2011 arbeitet der 77-Jährige als Senior Researcher am Institut für Informationsmanagement Bremen (ifib) – das er zuvor geleitet hatte. Sein Thema ist die sogenannte Alterslücke: die Unterrepräsentation älterer Menschen unter den Nutzerinnen und Nutzern des Internets. Die Alterslücke zeigte sich erstmals in Umfragen Mitte der 1990er-Jahre, deutlich wurden dabei auch altersbezogene Unterschiede.

Zwar verringerte sich Kubicek zufolge die Differenz zwischen jüngeren und älteren Menschen bei der Onliner-Quote in den vergangenen zehn Jahren erkennbar. Doch hinken gerade die über 70-Jährigen noch immer deutlich hinterher: Während bei den 14- bis 19-Jährigen laut Umfragen gut 98 Prozent im Internet unterwegs sind, sind es in der Bevölkerungsgruppe Ü70 nur noch knapp 64 Prozent – und bei gesonderter Betrachtung der Gruppen Ü75, Ü80 und Ü85 nimmt der prozentuale Anteil der Onliner weiter rapide ab, weiß Kubicek.

„Leider werden bei diesem Thema gerne alle über 60-Jährigen in einen Topf geworfen“, sagt Kubicek. „Dabei zeigen die Umfragen, dass die über 75-Jährigen deutlich schwieriger zu erreichen sind und ganz unterschiedliche Gründe benennen, warum sie nicht ins Internet gehen können oder wollen. Für sie müsste es darum viel mehr differenzierte und individuell angepasste Angebote geben.“

Unterstützungsbedarf ist groß und dauerhaft

Zu Kubiceks jüngsten Projekten gehört eine großangelegte Umfrage unter älteren Menschen aus Bremen und Bremerhaven, die mit mehr als 11.000 ausgefüllten Fragebögen die bundesweit bislang umfassendste Datenbasis zur Analyse der Internet-Nutzung von über 60-Jährigen geliefert hat. Auf Grundlage der Ergebnisse veröffentlichte der Wissenschaftler vor zwei Jahren im Bremer Kellner-Verlag das Buch „Digitale Teilhabe im Alter – Bedarfsermittlung und Koordination im Rahmen der kommunalen Altenhilfe“.

Mann vor Computer
Herbert Kubicek ist jeden Tag bis zu sechs Stunden im Internet unterwegs. © WFB/Hake

Darin legt er dar, dass der Unterstützungsbedarf für alte Menschen groß und dauerhaft ist. Denn: „Die körperlichen und kognitiven Fähigkeiten lassen einfach mit zunehmendem Alter auch bei den heute digital Versierten nach. In zehn Jahren wird es wieder neue, jetzt noch unbekannte Technologien geben, mit denen sie dann auch ihre Schwierigkeiten haben werden. Viele ältere Menschen können sich Dinge nicht mehr so gut merken und brauchen immer wieder Übergangshilfen, wenn es zum Beispiel ein neues Update gibt.“

Digitale Teilhabe wird immer mehr zur sozialen Teilhabe

Und dabei seien Lebensbereiche, in denen die Digitalisierung keine Rolle spielt, kaum noch zu finden – nicht zuletzt in der öffentlichen Daseinsvorsorge. Ein eindringliches Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit sei zudem die Pandemie-Zeit, in der Menschen ohne Zugang zu Videochats noch stärker unter Einsamkeit litten als diejenigen, die ihre Liebsten zumindest hin und wieder auf dem Bildschirm sehen konnten. „Wenn ich an den digitalen Angeboten nicht teilhaben kann und es die analogen nicht mehr gibt, verschwindet meine soziale Teilhabe“, betont Kubicek.

Auch erweitert sich das Spektrum der gerade für ältere Menschen relevanten digitalen Technologien seit einigen Jahren stetig: Beispiele dafür sind altersgerechte Assistenzsysteme, Gesundheits- und Pflege-Apps oder Smart Homes, die Geräte per Sprachsteuerung bedienen lassen.

Altenhilfe sieht er in der gesetzlichen Pflicht

Seine Forschung zeigt, dass die Angebote in Seniorentreffs, Begegnungsstätten und Bürgerhäusern bislang nicht ausreichen, um den Bedarf in dem Bereich zu decken. Der Wissenschaftler wünscht sich daher, Unterstützungsmaßnahmen in die bestehenden Sozialleistungssysteme zu integrieren. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung könne es sein, Leistungen zur Ermöglichung digitaler Teilhabe in den entsprechenden Altenhilfe-Paragrafen des zwölften Sozialgesetzbuches aufzunehmen, sagt der Experte.

In Bremen und Bremerhaven hat sich während der Pandemie einiges getan, um ältere Menschen die gesellschaftliche Teilhabe zu erleichtern: Im Herbst 2020 schlossen sich über 30 Kooperationspartner zum Netzwerk Digitalambulanzen zusammen, die digitale Hilfeleistungen für Seniorinnen und Senioren im Programm haben. Unter ihnen sind große Einrichtungen wie die Bremer Heimstiftung, aber auch kleinere wie die Ambulanten Versorgungsbrücken. Letztere haben ehrenamtliche Digitallotsinnen und -lotsen, die zu den Menschen nach Hause kommen. Ziel des Netzwerkes ist es nach Angaben des Projektkoordinators, alle Angebote zu bündeln, zu erweitern und bekanntzumachen. Das Projekt wird durch die Bremer Sozialsenatorin finanziert.

Mann auf Leiter mit Schallplatten
Der Bremer betreibt auch einen Online-Plattenladen. © WFB/Hake

Blog und Online-Plattenladen

Neben seiner Forschung schreibt Herbert Kubicek regelmäßig auch in seinem Blog, in dem er unterschiedliche Themen rund um die Digitalisierung aus Sicht von älteren Menschen aufgreift und Anregungen zu deren bedarfsgerechter Unterstützung präsentiert.

Und dann ist da noch sein Online-Plattenladen. Über 25 Jahre hat der Bremer auf Flohmärkten und internationalen Dienstreisen rund 20.000 Schallplatten aller Musikrichtungen der späten 1950er- bis 1970er-Jahre gesammelt. „Ab einem bestimmten Alter macht man sich Gedanken, was aus so einer Sammlung nach dem Tod werden soll“, erzählt er. Sein Wunsch: Die Platten sollen an Menschen geraten, die ihren Wert noch zu schätzen wissen. Und weil er schon immer einmal ausprobieren wollte, wie Onlinehandel so funktioniert, lag die Gründung eines virtuellen Plattenladens für ihn auf der Hand. Heute stehen noch etwa 12.000 Platten in den Regalen seines Arbeitszimmers – Tendenz sinkend.

Als Kubicek Ende der 1980er-Jahre von seiner alten Wirkungsstätte an der Universität Trier an die Universität Bremen wechselte, fühlte er sich in der Hansestadt auf Anhieb wohl. „Trier war damals eine schlafende Stadt, was Intellektuelles angeht“, erinnert er sich. „In Bremen ist mir sofort die Offenheit aufgefallen. Die Aufgeschlossenheit der Stadt und der Studierenden beeindrucken mich bis heute.“

Die Mission ist noch nicht beendet

Herbert Kubicek will sich auch in Zukunft für die Altersgruppe einsetzen, der er inzwischen selbst angehört. Mehr als zehn Jahre nach seiner Pensionierung die Füße hochzulegen und zu entspannen, das ist für ihn keine Option. „Ich brauche einfach die Möglichkeit zu glauben, dass ich doch noch etwas bewirken kann“, sagt er. „Und meine Mission ist ja noch nicht beendet.“ Das wird sie erst dann sein, wenn sich die Chancen der digitalen Teilhabe für ältere Menschen tatsächlich nachhaltig verbessert haben.

Für Seniorinnen und Senioren, die sich nicht so recht ans Internet herantrauen, hat der pensionierte Professor einen Tipp: „Lassen Sie sich von Ihren Kindern und Enkeln zeigen, wie es geht.“ Das führe im Übrigen häufig auch dazu, dass die innerfamiliäre Kommunikation intensiver werde. Erst kürzlich habe ihm eine ältere Dame erzählt, dass sie von ihrem Enkel regelmäßig Fotos geschickt bekomme, seit er ihr die Bedienung von WhatsApp gezeigt habe.

Pressekontakt: Herbert Kubicek, Tel.: +49 421 2052033, E-Mail: kubicek@uni-bremen.de

Autorin: Anne-Katrin Wehrmann
Redaktion: Janet Binder im Auftrag von textpr+, E-Mail: pressedienst@wfb-bremen.de

Bildmaterial: Das Bildmaterial ist bei themengebundener Berichterstattung und unter Nennung des jeweils angegebenen Bildnachweises frei zum Abdruck.

Foto 1: Herbert Kubicek will älteren Menschen einen besseren Einblick in die digitale Welt geben. © WFB/Björn Hake

Foto 2: Kubicek ist jeden Tag bis zu sechs Stunden im Internet unterwegs. © WFB/Björn Hake

Foto 3: Der Bremer betreibt auch einen Online-Plattenladen. © WFB/Björn Hake

Der Pressedienst aus dem Bundesland Bremen berichtet bereits seit Juli 2008 monatlich über Menschen und Geschichten aus dem Bundesland Bremen mit überregionaler Relevanz herausgegeben von der WFB Wirtschaftsförderung Bremen GmbH. Bei den Artikeln handelt es sich nicht um Werbe- oder PR-Texte, sondern um Autorenstücke, die von Journalisten für Journalisten geschrieben werden. Es ist erwünscht, dass Journalistinnen und Journalisten den Text komplett, in Auszügen oder Zitate daraus übernehmen. Bei Fragen schreiben Sie einfach eine E-Mail an: pressedienst@bremen.de

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