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31.7.2019 - Jann Raveling

„Mit dem Brexit leistet Großbritannien erstmals etwas für Kontinentaleuropa“

Internationales

Chefanalyst Folker Hellmeyer über Weltwirtschaft, Handelskonflikte und Bremens Rolle

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Folker Hellmeyer ist deutschlandweit profilierter Volkswirt und Chefanalyst beim Finanzdienstleister Solvecon. Häufig ist er im Fernsehen zu sehen, gibt regelmäßig Statements und Einschätzungen zur Lage der Weltwirtschaft ab.

Und er ist bekannt dafür, mit klaren Aussagen anzuecken. Mit uns hat er sich über den Brexit, Handelskonflikte und Chinas Seidenstraße unterhalten – und Bremens Rolle darin.

Herr Hellmeyer, der Handelskonflikt belastet die Weltmärkte, der Brexit die innereuropäischen Beziehungen und die deutsche Autoindustrie strauchelt. Bremen ist das exportstärkste deutsche Bundesland. Wie sehen Sie die Auswirkungen dieser globalen Faktoren auf die exportorientierte Bremer Wirtschaft in naher Zukunft?

Hellmeyer: Deutschland ist nach wie vor ein sehr starkes Land. Aber nicht wegen der Politik, sondern trotz der Politik. Unsere Innovationskraft liegt in den familiengeführten Unternehmen im Mittelstand, bei den Hidden Champions. Wir haben bei knapp über vier Prozent der Weltbevölkerung 60 Prozent des innovativen Kapitalstocks.

Daraus speist sich, neben den Großunternehmen, die Exportstärke Deutschlands. Diese ist erstmal weiter gegeben. Ich bin für den Standort Bremen zuversichtlich. Wir haben zwar im Moment eine relative Schwäche in der Konjunktur. Aber wir müssen auch konstatieren: Deutschland hängt am Investitionsgüterzyklus. Wenn Krisen beginnen, dann wird dieser zurückgefahren. Für diese Tatsache ist der derzeitige Stand der bremischen und deutschen Exportwirtschaft erstaunlich widerstandsfähig. Vorm Brexit müssen wir keine Angst haben.

Vorm Brexit müssen wir keine Angst haben.

Lassen sie es mich provokativ ausdrücken: Der Brexit stellt das erste Mal dar, dass Großbritannien seit seinem Beitritt etwas für Kontinentaleuropa macht. Warum sage ich das? Wenn der Brexit stattfindet, werden Unternehmen ihre Produktionsstätten von Großbritannien nach Europa verlagern. Einfach, weil es sich nicht rechnet, vor Ort mit Währungsrisiken und erhöhtem Personalaufwand die Produktion in Großbritannien zu halten. Je schärfer der Brexit ausfällt, desto schneller.

Die globalen Handelskonflikte sind ernster zu nehmen. Wir hängen an der Exportwirtschaft stärker als jedes andere Land in Europa. Das gilt auch für Bremen. Man sagt immer, „Hamburg ist das Tor zur Welt und Bremen hat den Schlüssel dazu.“ – wenn wir uns das heute anschauen, sieht es fast andersherum aus, Bremerhaven kann viel größere Schiffe aufnehmen als Hamburg.

Die Zukunft liegt im Osten!

Dieser Handelskonflikt ist für Bremen von enormer Bedeutung. Dabei spielt die WHO eine wichtige Rolle. Sie ist das Skelett der Globalisierung, sie stellt die Grundregeln. Der Angriff auf die WTO seitens der USA ist ein Angriff auf das Skelett – und wenn sie das aus einem Körper rausnehmen, dann bricht etwas zusammen. Die Globalisierung wie wir sie heute kennen, mit kurzfristigen Lieferzeiten, wird massiv von den USA in Frage gestellt. Dabei macht die Weltwirtschaft ohne die USA 85 Prozent aus, die USA stellen nur 15 Prozent der Weltwirtschaftskraft. Die aufstrebenden Länder haben einen Anteil von 65 Prozent und ein konstantes Wirtschaftswachstum von vier Prozent. Für Deutschland sind diese aufstrebenden Länder viel wichtiger als der Bestandsmarkt USA – das wird im Diskurs bisher zu wenig beachtet. Die Zukunft liegt im Osten! Dorthin müssen wir uns stärker ausrichten. Ansätze gibt es dazu – das Tempo muss erhöht werden.

Bremen hat neben China und den USA seinen Schwerpunkt in den internationalen Handelsbeziehungen auf die Länder Türkei und Vietnam gelegt. Können diese Länder – und damit auch Bremen – von den derzeitigen Handelskonflikten profitieren oder drohen sie, davon mitgerissen zu werden?

Hellmeyer: Eindeutig profitieren sie. Wir sehen seit mehreren Jahren, dass Produktionsketten aus China in die Tigerstaaten wie Vietnam verlegt werden. China entwickelt sich vom Billiglohnland zum Mittellohnland. Die Ausrichtung Bremens Richtung Vietnam ist richtig! Hier liegen die Skaleneffekte im Transportbusiness. Das war eine weise Entscheidung. Man muss aber noch weiter denken.

Auch die Türkei, trotz aller Probleme der EU und der Nato, bietet Potenzial. Entscheidend ist, dass wir uns die Märkte im Osten anschauen, dass wir die richtigen Routen belegen, dass wir Infrastrukturen aufbauen, von denen unsere Häfen, unsere Wirtschaft vor Ort profitiert.

Die nordeuropäischen Häfen müssen sich neuen Herausforderungen stellen
Die nordeuropäischen Häfen müssen sich neuen Herausforderungen stellen © bremenports

Häfen sind ein gutes Stichwort. China baut eine neue Seidenstraße. Innerhalb der Initiative kommt dem griechischen Hafen Piräus eine besondere Bedeutung zu, der als Tor zu Europa für die chinesischen Warenverkehrsströme gelten soll und von den Chinesen massiv ausgebaut wurde. Auch italienische Logistikstandorte verhandeln mit den Chinesen. Verschieben sich die Warenströme in Zukunft zum Nachteil nordeuropäischer Häfen wie Bremerhaven?

Hellmeyer: Ja. Das ist eine große Herausforderung für uns an der Nordsee. Wir haben einen geografischen Nachteil, die Wege sind im Süden kürzer. Aber lassen sich mich sagen: Die Initiative One Belt - One Road hat zwei Effekte: Einmal eine bessere Vernetzung und Infrastruktur. Der zweite Punkt ist der: Innerhalb von zehn Jahren können wir anderthalb Milliarden Menschen vom Rand der globalen Wirtschaft in das Zentrum holen. Dadurch entwickelt sich dieses Humanpotenzial viel dynamischer, hat andere Nachfragekurven und da liegen dann auch die Chancen in Exportmärkten.

Aber Fakt ist: Durch Häfen wie Piräus entstehen dynamische Verschiebungen in den Wirtschaftsströmen. Diese Häfen erhalten mit ihrem Ausbau auch eine neue Hinterlandanbindung, und das ist der Punkt, wo Bremen aufpassen muss: Wir stehen im globalen Wettbewerb, wo es um Effizienz geht. Das was in Griechenland gebaut wird, ist heute State-of-the-Art. Wenn wir hier nicht aufpassen und unsere in Teilen ineffiziente Infrastrukturen, nicht nur in Bremen, verbessern, dann werden wir Warenströme verlieren. Weil es dann effizienter ist, Waren von Athen gen Norden zu schicken als andersherum. Man sollte sich der Herausforderung und der Chancen bewusst sein.

Europa sieht sich zwischen den USA und China hin- und hergerissen. Muss die EU sich künftig deutlich stärker positionieren, um nicht Gefahr zu laufen, zwischen beiden Mächten aufgerieben zu werden?

Hellmeyer: Das Problem der EU ist, dass sie keine politische Union, sondern eine wirtschaftliche ist. Sie befindet sich in einer dauerhaften politischen Pubertät. Wenn sie unseren Kapitalstock sehen, unsere Unternehmen, dann sehe ich diese außenpolitisch nicht angemessen vertreten. Wir haben uns lange hinter den USA versteckt. Die USA von 1970 sind aber nicht die von 2019. Auf der anderen Seite stehen wir China entgegen.

Die Antwort kann hier nur lauten: Es gibt kein Entweder-oder. Wir müssen eine eigene Struktur entwickeln, zu den Vereinigten Staaten von Europa werden, eine eigene interessensorientierte Außenpolitik haben und nicht eine, die uns durch Dritte definiert wird.

Das Motto der Hanse sollte unser Motto in Europa sein: Wandel durch Handel.

Ich möchte eine Perspektive bieten: Wir sind eine Hansestadt. Ich bin gebürtig aus Bremen, mein Vater war Kapitän. Das Motto der Hanse sollte unser Motto in Europa sein: Wandel durch Handel. Durch Handel entsteht Wohlstand, daraus entsteht Freiheitswille vor dem eigenen, kulturellen Hintergrund – das ist gelebte Toleranz. Wir sollten wie die Chinesen akzeptieren, dass andere Kulturen anderer Systeme bedürfen. Die Anpassung findet dann über den kulturellen Austausch und über den Handel statt. Dann haben wir eine evolutionäre Anpassung ohne Blutvergießen. Das passt zu dem humanistischen Geist, zu dem Europa steht. Nicht an der Seite des einen oder des anderen, sondern unsere eigenen Werte leben, diese nach außen transportieren über enge Handelsbeziehungen, wie ein Mediator zwischen den Blöcken. Und wenn wir das schaffen als Vereinigte Staaten von Europa, dann mach ich mir keine Sorgen.

Ein kleiner Exkurs dazu: In Deutschland reden wir gern darüber, wie wir in Europa alles bezahlen: Das ist einer der größten Irrtümer. Deutschlands Hochleistungsmilchkuh ist die EU. 60 Prozent unserer Exporte gehen in die EU. Unser Interesse muss es sein, dass wir die EU funktionsfähig halten. Wir zahlen zwar als größtes Land am meisten in die EU ein, in der Pro-Kopf-Betrachtung liegen wir jedoch im oberen Mittelfeld und nicht an der Spitze. Wir profitieren von der Krise unsere Brüder und Schwester in Europa – mit mehr als 180 Milliarden Euro in Zahlen. Davon geben wir nichts ab!

Darum müssen wir für Europa in die Tasche greifen. Nicht konsumtiv – über Konsum-Einmaleffekte, sondern investiv, über Investitionen, von denen wir alle langfristig profitieren. Vor dieser Aufgabe steht die neue Kommission. Wenn wir dieses Europa verlieren, müssen wir uns keine Gedanken über Bremen mehr machen – weil Bremen so exportabhängig ist. Ich wünsche mir für dieses Bundesland, dass wir diese Gedanken in die nächsten Generationen mittragen: Wirtschaftspolitik ist nicht nur Wohlstandpolitik sondern Friedenspolitik, weil man gemeinschaftliche Interessen mit anderen Ländern verfolgt.

Herr Hellmeyer, vielen Dank für das Gespräch!

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