Die Plattmacherin
LebensqualitätVon wegen verstaubte Folklore! Gesine Reichstein beweist, dass Plattdeutsch sogar nachrichtentauglich ist.
Es ist kurz vor halb elf. Gesine Reichstein betritt das Studio, lächelt der Moderatorin zu und greift zum Kopfhörer. Noch ein schneller Blick aufs Manuskript, dann ist sie auf Sendung. Für die nächsten dreieinhalb Minuten ist der Äther fest in plattdeutscher Hand. Die niederdeutschen Nachrichten bei Radio Bremen sind Kult.
Op Platt trechtmaakt
Wenn Gesine Reichstein morgens zum Sender radelt, haben ihre Kollegen aus der Nachrichtenredaktion bereits die wesentlichen Meldungen aus der täglichen News-Flut herausgefiltert. Das hochdeutsche Manuskript landet bei der Germanistin auf dem Schreibtisch und wird inklusive Wettervorhersage ‚op Platt trechtmaakt un vörleest‘.
Hochdeutsch erst in der Schule
"Plattdeutsch ist bei mir Muttersprache. Hochdeutsch habe ich in der Schule gelernt." Niederdeutsch belegte sie dann auch im Rahmen ihres Lehramtsstudiums in Göttingen. Dennoch musste sie nochmal tüchtig pauken, als sie beim Heimatfunk von Radio Bremen anfing. Denn ihr Platt aus Bad Bentheim war nicht kompatibel mit dem Bremisch-Oldenburgischen Zungenschlag.
Ich hab' mir das Rundfunkplatt angewöhnt. Ich musste alles neu lernen, auch die Konjugationen.
Gesine Reichstein, Radio Bremen
Routine kam nicht über Nacht
Heute bringt die ehemalige Deutschlehrerin kaum noch eine Nachricht aus der Fassung. Auch nicht, wenn ihr die Kollegen eine Viertelstunde vor der Sendung noch eine Eilmeldung rüberschieben. Doch die Routine kam nicht über Nacht. „Ich habe mindestens fünf Jahre gebraucht“, gesteht sie und streicht sich eine blonde Locke aus dem Gesicht. Als Reichstein 1995 bei den plattdeutschen Nachrichten anfing, grübelte sie schon auf dem Weg zur Arbeit über mögliche Formulierungen.
Ernste und weniger ernste Nachrichten
Reichstein bevorzugt klare, kurze Sätze und Bilder. Sie wägt genau ab, welcher Wortschatz zur Nachricht passt.
Im Plattdeutschen klingt vieles nicht so hart.
Gesine Reichstein, Radio Bremen
Bei Nachrichten zu Sexualstraftaten oder Terroranschlägen ist viel Fingerspitzengefühl gefragt. „Es gibt auch Nachrichten, die sind nicht so ernst, etwa eine Eröffnung oder Grammy-Preisverleihung.“ Und beim Wetter heißt es statt morgendlichem Sprühregen schon mal ‚Hier un dor kann dat s’morrns erst pieseln‘. Eine Herausforderung beim Vorlesen sind Sätze mit englischen Namen. Wegen der Parallelen zwischen Platt und Englisch droht hier Verhaspelungsgefahr.
Den Hörer mitnehmen
Zuweilen hadert Reichstein mit den hochdeutschen Nachrichtenkollegen. Etwa wenn bei einem ganzen Heer von Fremdwörtern die Verständlichkeit auf der Strecke bleibt. „Man muss den Hörer auch noch mitnehmen“, mahnt sie. Die Plattexpertin bemüht sich in solchen Fällen, zumindest das Schlüsselwort verständlich rüberzubringen. Ein „richtig hartes Ding“ sind für sie außerdem Wissenschaftsnachrichten. „Forschungsergebnisse sind das Allerletzte“, gesteht sie lachend. „Etwa vom Alfred-Wegener-Institut oder aus der Raumfahrt.“ Auch Worte wie ‚versicherungsmathematischer Abschlag‘ oder ‚crossmediale Programminnovation‘ bereiten ihr Kopfzerbrechen.
Fünfköpfiges Team
Gesine Reichstein leitet ein fünfköpfiges Platt-Nachrichten-Team. Darunter sind auch zwei Experten des Instituts für Niederdeutsche Sprache (INS) in Bremen. Die Plattmacher wechseln sich ab, Reichstein ist montags dran. Anderntags schaut sie regelmäßig mit frischem Kaffee bei den diensthabenden Kollegen vorbei und steht ihnen bei Fragen zur Seite. „Ich leite sie an, Sprachbilder zu finden. Aber ich will das nicht kontrollieren.“
Wörterbücher und Netzwerke
Neben plattdeutschen Wörterbüchern stöbert Gesine Reichstein gerne mal im Niederländischlexikon. Zuweilen ruft sie auch einen befreundeten Amtsarzt an, um den niederdeutschen Namen für eine Krankheit herauszufinden. „Die Pocken beispielsweise gab es ja früher schon, also gibt es da auch ein Wort für.“ Das Vokabular speist sich jedoch nicht nur aus „altem Platt“, sondern wächst stetig. So wird das Mobiltelefon zum ‚Klöönkasten‘ oder ‚Ackerschnacker‘. Und ‚VIPS‘ sind ‚heel wichdige Lüüd‘.
Hörer sind toleranter geworden
Die plattdeutschen Nachrichten feiern im Juli 2017 ihren 40. Geburtstag. Ins Programm kamen sie 1977 per Zufall, nachdem ein Redakteur einen niederdeutschen Satz in die Nachrichten eingebaut hatte. Das kam so gut an, dass regelmäßig Platt-Nachrichten gesendet wurden. Zunächst zwei Mal wöchentlich, seit 1995 montags bis freitags um 10.30 Uhr.
Die Hörer sind toleranter geworden.
Gesine Reichstein, Radio Bremen
Reichstein ist auch Publikumsbeauftragte des Senders. Früher habe es häufiger Kritik an einzelnen Formulierungen gegeben. Heute haben die Nachrichten Fans im In- und Ausland und werden auch im Lehrbetrieb eingesetzt.
Mehr über Plattdeutsch erfahren Sie beim Institut für niederdeutsche Sprache (INS), das seinen Sitz in Bremen hat.
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