Berufsausbildung 4.0: Der Ausbildungsplatz in der digitalen Zukunft
Digitalisierung / Industrie 4.0Professor Sven Voelpel über Lern- und Lehrinstitutionen im Zeitalter von Industrie 4.0
Die Arbeitswelt wandelt sich durch die Digitalisierung und Industrie 4.0. Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssen sich neuen Arbeitsmodellen, Aufgaben und Ansprüchen stellen. Das gilt auch für die Berufsausbildung.
Wie der Wandel der Arbeitswelt für Unternehmen aussieht, hat uns Professor und Stratege Sven Voelpel von der Bremer Jacobs University im Interview „Arbeit 4.0 – wie sich Unternehmen Fachkräfte sichern“ geschildert. Wenn sich die Arbeitswelt ändert, muss sich auch die Berufsausbildung – zu einer Bildung 4.0 – ändern. Was das für Unternehmen, für Bildungsinstitutionen und die Gesellschaft bedeutet, erzählt uns der Zukunftstrendforscher, indem er die Themen Demografie und Digitalisierung für uns zusammen bringt.
Herr Voelpel, warum müssen wir überhaupt unsere Berufsausbildung durch die Digitalisierung verändern?
Sven Voelpel: Wir haben es mit verschiedenen Phänomenen zu tun: Unternehmen müssen mit sinkenden Zahlen potenzieller Bewerber rechnen, der Fachkräftewettbewerb nimmt zu. Studenten wollen nicht mehr in die Großkonzerne, Job-Sicherheit nimmt keinen so großen Stellenwert ein, Selbstbestimmung hingegen schon. Darauf müssen die Unternehmen reagieren – sie müssen flexibler werden, um Wettbewerbsfähig zu bleiben.
Gleichzeitig haben wir die Digitalisierung, der Computer übernimmt immer mehr Aufgaben. Fachliches Wissen tritt somit weiter zurück, denn Wissen kann man auch im Computer durch gutes Wissensmanagement und mobile Abrufbarkeit erzeugen. In Zukunft werden deshalb Kompetenzen wie Kreativität und Flexibilität viel stärker gebraucht. Wie man kreativ und flexibel ist, wird aber bisher nicht in der Ausbildung gefördert.
Früher galt die Frage: Was unterscheidet uns vom Tier? Heute fragen wir uns: Was unterscheidet uns von Maschinen? Eines wird dabei sehr deutlich: Kreativität können Computer nicht.
Wie kitzeln wir Kreativität und Flexibilität in Mitarbeitern hervor?
Sven Voelpel: Man muss Kreativität zum Gegenstand der Ausbildung machen. Bei uns in der Jacobs University haben wir in Zusammenarbeit mit der WFB (Abteilung Innovation) zum Beispiel das Projektseminar „Entrepreneurship and Innovation“ entwickelt. Ziel ist es, das Studierende Start-up-Ideen in kürzester Zeit entwickeln und präsentieren. Dazu würfeln wir Studierende in interdisziplinäre und kulturell vielfältige Teams zusammen. Wir lassen sie am ersten Tag zu einem Thema frei nachdenken und präsentieren, ohne Zwang von bestimmten Formen. Das fördert Kreativität. Im nächsten Schritt werden wir dann konkreter und verarbeiten mithilfe kreativer Methoden, wie Design Thinking oder dem Business Model Canvas, die Ideen weiter.
Die Denkweisen von Kreativität und Agilität müssen wir ins Bildungssystem und in die Unternehmen übertragen.
Diese interdisziplinären Teams sind sehr kreativ. An der Jacobs University kommen Menschen aus verschiedenen Kulturen und Disziplinen und damit unterschiedlichen Denkweisen zusammen und das ist sehr fruchtbar. Wenn man dann zusätzlich mit positiven Emotionen arbeitet, also motiviert und belohnt, dann kommen da gute Ergebnisse bei raus.
Unternehmen haben es sich aber doch schon immer auf die Fahnen geschrieben, kreativ und innovativ zu sein.
Sven Voelpel: Unternehmen lassen vielfach keine Innovationen zu. Sie sagen zwar, dass Arbeiter innovativ sein dürfen, aber tatsächlich werden diese Menschen schnell eingenordet und durch die Organisation und die Prozesse im Unternehmen an zu viel Eigeninitiative gehindert. Da eckt man an. Wer kreativ ist, wird bestraft, weil es dafür keine Leistungsanreize gibt.
Für Unternehmen ist wirkliche Kreativität, Interdisziplinarität und Flexibilität ein Kontrollverlust. Doch Prozesse sind heute nicht mehr planbar. Man muss das System lebendig halten, darf aber nicht zu sehr darin eingreifen. Das ist eine große Herausforderung, für Unternehmen aber auch Ausbildungsinstitutionen.
Wie muss das Bildungssystem darauf reagieren?
Sven Voelpel: Bisher verlernte man Kreativität eher in seiner Lernlaufbahn – vom kreativen Lernen im Kindergarten hin zur starren Vorlesung in der Universität nimmt das kreative Arbeiten stetig ab. Das müssen wir umkehren. Das alte starre Bildungssystem passt nicht mehr zu dynamischen Unternehmen. Da müssen wir total umswitchen zu einer Berufsausbildung 4.0.
Wie soll das in der Praxis aussehen? Müssen die Lehrer das lehren neu erlernen?
Sven Voelpel: Genau, viele Lehrer und Ausbilder müssen umdenken. Das ist natürlich nicht einfach – man kann denen ja nicht sagen, dass sie ihren Job schlecht machen, weil sie ihn ja bisher genauso machen sollten und nach diesen Kriterien gut gemacht haben. Die Lehrer brauchen deshalb Fortbildungen zum digitalen Arbeiten. Gleichzeitig müssen sie agil werden. Man darf auch als Lehrer nicht 30 Jahre lang das Gleiche machen, dann verliert man seine Motivationsfähigkeit und Agilität. Menschen brauchen regelmäßig neue Herausforderungen. So werden sie agiler und geben das dann auch weiter.
Müssen sich auch die Methoden ändern?
Sven Voelpel: Zum einen benötigen wir mehr Gruppenarbeit, mehr Selbstverantwortlichkeit. Es geht nicht mehr ums „Vorpredigen“, sondern ums Selbsterarbeiten. Dazu benötigen wir, das sagt auch jede Lernpädagogik, mehr Emotionalisierung, mehr Belohnungen und das alles in Teamarbeit. Wir lernen durch Anreize und positive Erfahrungen.
In der Schule und Uni geht es nicht mehr um das Vorpredigen, sondern ums Selbsterarbeiten.
Zum anderen muss Lernen für uns Relevanz, also einen direkten praktischen Bezug, haben. Wenn man etwas Abstraktes lernt, dann vergisst man das wieder. Aber wenn es für mich Bedeutung hat, Emotionen auslöst, mich betrifft oder ich es auf ein bestimmtes Problem anwenden kann, dann behalte ich das. Das kennt ja jeder von der Klausur – die Inhalte hat man nach drei Monaten vergessen, während man das Thema seiner Bachelorarbeit sein ganzes Leben lang vorbeten kann.
Wenn wir über Digitalisierung reden, wird gerne das Schreckensgespinst der Millionen Arbeitsplätze beschworen, die verloren gehen, die von Robotern und autonomen Fahrzeugen übernommen werden. Wie muss die Aus- und Weiterbildung darauf reagieren?
Sven Voelpel: Gesamtgesellschaftlich werden immer mehr Jobs geschaffen. Durch den demografischen Wandel nehmen die Zahlen der Beschäftigten zudem stetig ab. In 40 Jahren haben wir nach Schätzungen von einigen Experten bis zu 15 Millionen Beschäftigte weniger. Gleichzeitig gab es große Produktivitätszuwächse in den letzten Jahrzehnten, die noch weiter anhalten. Wir benötigen also die Digitalisierung alleine schon, um effizienter zu werden, um mit weniger Menschen mehr zu schaffen.
Natürlich werden viele Jobs durch die Digitalisierung abgeschafft. Gleichzeitig sind wir aber als Menschen immer mehr an Wohlstand interessiert. Wir wollen immer mehr Produkte und Services, die durch die Digitalisierung möglich werden. Zudem gibt es ja auch schon erste Experimente mit dem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE), die positiv verlaufen. Auch das würde uns helfen, neue Jobs zu schaffen. Denn durch das BGE hätten Menschen Zeit, kreativ zu werden und neue Dinge auszuprobieren, ohne eine zu große finanzielle Unsicherheit zu erleben. Das hemmt heute noch viele Gründungswillige.
Sie haben zusammen mit dem Allianz-Versicherungskonzern eine Studie zur Berufsausbildung 4.0 durchgeführt. Neben Kreativität und Flexibilität – welche Trends haben Sie noch herausgefunden?
Sven Voelpel: Für das Thema Ausbildung haben wir zum Beispiel herausgefunden, dass es sehr wichtig ist, nah an den Kunden heranzukommen. Schon während der Ausbildung und der Berufsschule müssen Azubis direkt in den Kundenkontakt und an den Endverbraucher, um sich wichtige Kompetenzen wie zum Beispiel Empathie aufzubauen. Denn Empathie ist heute extrem wichtig. Wir haben einen Käufermarkt – der Kunde bestimmt, was er kauft. Deshalb ist eine Kundenzentrierung und guter Kundenservice höchst relevant, denn durch das Produkt kann man sich nicht mehr allein profilieren. Man muss Mehrwert für den Kunden generieren.
Empathie ist heute extrem wichtig, um Kundenbedarfe zu erkennen und zu bedienen.
Weitere wichtige Kompetenzen, auf die wir in der Berufsausbildung setzen müssen, sind Interaktion und Interdisziplinarität, Wahlfreiheit, Mobilität, Flexibilität, Onlinekompetenzen, digitales Transfervermögen, Kreativität, virtuelles Arbeiten oder/ und unternehmerisches Denken.
Wie sieht es mit denjenigen aus, die ihre Ausbildung bereits hinter sich gebracht haben?
Sven Voelpel: Wir müssen „lebenslanges Lernen“ lernen. Denn Wissen reicht nicht mehr ein Leben lang. Da gibt es verschiedene Wege, zum Beispiel ein Reverse Mentoring: Junge zeigen Älteren, wie es geht. Etwa bei digitalen Themen, wo die Digital Natives firm sind. Genau zu dieser Frage forschen wir im WDN – WISE Demografie Netzwerk mit unterschiedlichen Top-Unternehmen zusammen. Das Ergebnis: Altersdiverse Teams funktionieren besser unter bestimmten Voraussetzungen, die man fördern kann. Die lebenslange Leistungsfähigkeit hat etwas mit der Einstellung zum Alter zu tun.
Diese Erkenntnisse greifen wir auch in der Ausstellung „Ey Alter“ auf, die im Bremer Universum lief und derzeit in Stuttgart im Mercedes Benz Museum gastiert. Darüber hinaus haben wir die Erkenntnisse im Buch „Entscheide selbst, wie alt du bist“ aufgearbeitet.
Herr Voelpel, vielen Dank für das Interview.
Zur Person
Sven Voelpel ist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Jacobs University Bremen. Der Schwerpunkt seiner Forschung sind Geschäftsmodelle, Strategien für das Überleben und die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen in Zeiten von Digitalisierung und demografischem Wandel. Besonderes Augenmerk gilt den Chancen und Risiken, die alternde Belegschaften in Hinsicht auf Innovationen bieten. 2007 gründete Voelpel das „WDN – WISE Demografie Netzwerk“ , ein Forum zum Meinungs- und Erfahrungsaustausch zu den Herausforderungen des demografischen Wandels.
Um Unternehmen noch besser auf die Digitalisierung auf strategischer Ebene vorzubereiten, wird in der Metropolregion Nordwest im Frühjahr 2017 ein Digitalisierungsnetzwerk gegründet. Ein Aspekt des Netzwerks ist auch das Thema Aufbau der Digitalisierungskompetenz in der Berufsausbildung.
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