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6.3.2018 - Jann Raveling

Arbeit 4.0 – wie sich Unternehmen Fachkräfte sichern

Digitalisierung / Industrie 4.0

Sven Voelpel fährt sich begeistert durch die Haare, wenn er erzählt. Bei Themen rund um das Arbeiten der Zukunft, Veränderungsprozesse im Unternehmen, den demografischen Wandel und neue innovative Business-Ansätze ist der Professor Feuer und Flamme. Der produktive 42-Jährige, der sieben Bücher und hunderte Fachartikel veröffentlicht hat kennt sich mit der Digitalisierung, ihren Herausforderungen und Folgen bestens aus. Denn die sind allein für die Arbeit der Zukunft zahlreich: Neue Berufsfelder entstehen, während durch die Automatisierung andere wegfallen. Angestellte versprechen sich durch die Möglichkeiten des digitalen Arbeitens eine ausgewogenere Work-Life-Balance und neue Arbeitszeitmodelle. Arbeitgeber wünschen sich höhere Flexibilität. Gleichzeitig nimmt die Arbeitszeitverdichtung zu – die Folge sind Burn-Outs. Wie behalten wir da den Überblick? Das haben wir Sven Voelpel gefragt.



Herr Prof. Voelpel, Arbeit 4.0 bezeichnet den Wandel der Arbeitswelt durch die Digitalisierung. Was heißt das für Unternehmen und ihre Beschäftigten?


Sven Voelpel: Arbeit und Unternehmen werden sich komplett umgestalten. Es entstehen neue Unternehmen mit Geschäftsmodellen, die wir uns heute nur schlecht vorstellen können. Beispiel Uber: das Unternehmen hat es im Taxibereich durch eine Mobilitäts-App mit lediglich 3.500 Angestellten geschafft, fast genauso viel wert zu sein wie General Motors mit mehr als 200.000 Angestellten. Diese „disruptive Innovation“, also neue Geschäftsmodelle, die herkömmliche Branchen komplett verändern, werden zunehmen. Durch die Digitalisierung beschleunigt sich der Fortschritt in vielen Bereichen massiv. Wir wissen, dass einfache, monotone Tätigkeiten abnehmen, weil sie immer stärker automatisiert werden können. Hingegen steigt die Anforderung an wissensintensive Arbeiten, solche, die Kreativität und autonomes Denken erfordern.

Wir brauchen mehr Kreativität, Teamarbeit und vernetztes Denken.

Zudem werden durch die Digitalisierung Arbeitsabläufe immer transparenter. Arbeit und Privatleben verschwimmen immer mehr. Das führt dazu, dass Menschen mehr arbeiten, weil gleichzeitig der Arbeitsdruck steigt. Parallel dazu nimmt durch die Digitalisierung die Freiheit am Arbeitsplatz zu – Menschen können vom Arbeitsplatz aus auf immer mehr Funktionen aus dem Privatleben zugreifen. Das führt dazu, dass Unternehmen sich überlegen müssen, wie sie Mitarbeiter motivieren: Denn wenn die Arbeiter am Platz die Möglichkeit haben, auf Youtube und Facebook zu surfen, mit ihren Kindern zu sprechen oder ins Sportstudio zu gehen, muss die Motivation für die Arbeit da sein, denn sonst arbeitet keiner mehr. Darum wird Motivation immer wichtiger.


Wie müssen Unternehmen darauf reagieren, wie motivieren sie ihre Mitarbeiter?


Sven Voelpel: Es hilft, eine Atmosphäre zu schaffen, die positiv ist. Hier lohnt sich ein Blick zu den großen Digitalunternehmen, Google und Facebook. Die Arbeit dort ist sehr wissensintensiv, eine Entwicklung, die durch die Digitalisierung auch auf alle anderen Branchen zukommt. Diese Unternehmen schaffen eine Atmosphäre, die dem Mitarbeiter Spaß macht. Das beginnt bei der Raumgestaltung: Da stehen bunte und bequeme Möbel, die sich die Mitarbeiter selbst zurechtrücken können. Sie können Kinder und Haustiere mitbringen. Teilweise werden auch Arbeitszeiten aufgelöst, das heißt, es gibt keine Pflichtarbeitszeiten mehr, die Arbeit muss nur erledigt werden. Wie, liegt im Ermessen des Mitarbeiters. Das sind Methoden, um Mitarbeiter anzuwerben und zu halten. Das Ziel ist, das jeder Mitarbeiter von sich aus für die Arbeit und das Projekt motiviert ist. Im Idealfall schafft es ein Unternehmen Bedingungen zu schaffen, bei denen Mitarbeiter noch mehr Spaß und Erfüllung haben als im Privaten mit der Familie und Freunden oder Hobbies.

Wenn wir die Digitalisierung negativ sehen, wird sie uns auch negativ treffen.

Das bedeutet für viele Unternehmen sicherlich eine große Herausforderung – und Investitionen.


Sven Voelpel: Heute verlässt man sich bei der „Digitalisierung der Arbeit“ auf Technologie. Die technischen Lösungen, die nötig sind, gibt es aber meist bereits – viel wichtiger ist etwas anderes: die Psychologie der Arbeitenden. Hinzukommen zu einer positiven Einstellung gegenüber der Digitalisierung. Denn neben den Potenzialen die heute gesehen werden, gibt es noch viele Gefahrenbilder: Etwa Studien, die einen Jobabbau durch Digitalisierung und Automatisierung prognostizieren. Von diesem – oft bewusst übertriebenen – Bild muss man wegkommen, wenn man die Bevölkerung, aber auch die eigenen Mitarbeiter für die Zukunft motivieren will, über die ganze Altersstruktur hinweg. Wenn wir die Digitalisierung negativ sehen, wird sie uns auch negativ treffen.


Wie müssen gerade mittelständische Unternehmen auf den Wandel der Arbeitswelt reagieren?


Sven Voelpel: Großunternehmen brauchen sehr viel länger, um Prozesse umzusetzen. Das können Mittelständler nutzen. Kleinere Unternehmen müssen auf Netzwerke zugreifen. Denn diese haben oft nicht die nötigen Ressourcen für Forschung, Entwicklung und Weiterbildung. Wenn sie sich vernetzen, profitieren sie voneinander. Familienbetriebe können sehr viel schlagkräftiger agieren. Zudem werden durch die Digitalisierung viele Technologien günstiger und schneller, was kleinen Unternehmen zugutekommt.

Der klassische Lebensentwurf Ausbildung – Beruf – Ruhestand löst sich zunehmend auf.

Viele Arbeitgeber erwarten höhere Flexibilität – wie lässt sich das mit den veränderten Bedürfnissen der Arbeitnehmer, aber auch dem demografischen Wandel vereinen?


Sven Voelpel: Arbeit und Privatleben vermischen sich in Zukunft noch viel weiter. Zwei Entwicklungen begleiten das: Der klassische Lebensentwurf Ausbildung – Beruf – Ruhestand löst sich zunehmend auf. Zudem kommen in heutigen Lebensentwürfen alle Lebensphasen auf einmal auf uns zu: Berufseinstieg und –aufstieg, Hausbau, Kinder, das passiert alles gleichzeitig in der „Rush Hour des Lebens“, in der Lebensphase von Ende zwanzig bis Mitte dreißig oder Mitte vierzig. Hier möchten die Menschen künftig flexibler sein: Man nimmt sich für die Kinder ein oder zwei Jahre Auszeit, arbeitet dafür dann aber auch länger, weil man durch die gesteigerte Lebenserwartung ohnehin bis 70 arbeiten kann und möchte. Oder auch auf den Tagesablauf gesehen: Viele können sich heute vorstellen, abends mobil von zu Hause zu arbeiten, wenn die Kinder im Bett sind, dafür tagsüber aber mehr Zeit mit ihnen zu verbringen. Hier werden durch die Digitalisierung vielfältige Lebensentwürfe und Wünsche möglich.


Gleichzeitig hat das auch eine Bedrohungskomponente – der Burn-Out nimmt zu.


Sven Voelpel: Burn-Out und psychische Erkrankungen sind heute eine der Hauptursachen für das Ausfallen aus dem Berufsleben. Das liegt am Arbeitsdruck, der immer größer wird. Darüber hinaus kommen viele nach der Arbeit an ihren heimischen Schreibtisch, in ihre sozialen Netzwerke, mit dem Druck, hier ebenfalls alle Nachrichten abzuarbeiten. Die Arbeitsverdichtung nimmt auch ohne soziale Netzwerke immer weiter zu und wird es durch die Digitalisierung auch zukünftig. Früher hat eine Briefzustellung mehrere Tage gedauert, heute bin ich auch nach Feierabend oder im Urlaub erreichbar – und es wird erwartet, erreichbar zu sein. Hier müssen sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber die Kompetenzen entwickeln, wie man damit umgeht. Das muss aber noch erforscht und erprobt werden durch Best-Practices und Studien, hier stehen wir in der Wissenschaft noch am Anfang. Erst nachdem klar ist, was zu tun ist, können wir sinnvoll handeln.


Was sollten Unternehmen denn tun, die mit ihrer Belegschaft jetzt ganz konkret vor Herausforderungen durch die Digitalisierung stehen – Work-Life-Balance, Arbeitszeitverdichtung, Burn-Out?


Sven Voelpel: Zunächst einmal ist es ganz wichtig, mit der richtigen Einstellung an das Thema zu gehen, positiv und aufgeschlossen, und damit eine Digitalkompetenz aufzubauen - für den Mitarbeiter, für die Führungskräfte und die Gesamtorganisation. Vorgesetzte müssen die Digitalisierung vorleben. Man weiß zum Beispiel, wenn Vorgesetzte am Firmensport teilnehmen, machen die Mitarbeiter auch mit. So muss das auch bei der Digitalkompetenz und Arbeit 4.0 sein. Hier sehe ich großes Potenzial, gerade bei den Familienunternehmen im Mittelstand, weil diese oft starke Werte haben, die sie vorleben.


Ist der Wandel der Arbeitswelt, Arbeit 4.0, damit ein Top-Down-Thema?


Sven Voelpel: Jein. Menschen im Berufsleben wollen gerne eine Richtung, jemanden, der die Führung übernimmt und der als Vorbild dienen kann. Aber das ist es nicht allein. Denn durch die steigende Transparenz durch die Digitalisierung wollen die Mitarbeiter auch immer mehr einbezogen werden, Stichwort flache Hierarchien und Demokratisierung der Unternehmen. Die Digitalisierung schafft Hierarchien ab, weil jeder Mitarbeiter immer mehr Einsicht in alle Unternehmensprozesse hat. Organisationen beziehen Mitarbeiter zunehmend in Entscheidungen ein. Hier müssen Unternehmen den richtigen Mittelweg finden.

Heute muss man das Lernen neu erlernen.

Welche Anforderungen entstehen durch die Digitalisierung an die Ausbildung und Qualifizierung von Arbeitskräften?


Sven Voelpel: Früher lernten wir einmal etwas – zum Beispiel in der Ausbildung – was ein Leben lang hielt. Heute verändert sich die Welt so schnell, dass das nicht mehr ausreicht. Heute muss man das Lernen neu erlernen. Und das Prinzip der Veränderungen lernen – lebenslanges Lernen. Wir wissen, dass wir im Laufe des Lebens immer schlechter lernen. Das haben wir an der Jacobs University durch Studien nachgewiesen. Wenn man zehn Jahre ein- und dieselbe Tätigkeit macht, wird man lernentwöhnt. Das heißt, man kann und will nichts Neues mehr lernen.

Die Entwicklung hängt auch mit einer falschen Lernpädagogik zusammen: Die wird permanent schlechter, je älter wir werden. Während wir im Kindergarten noch spielend lernen, sitzen wir in der Uni nur in Vorlesungen und bekommen den Stoff frontal präsentiert zum „Bulimielernen“. Das ist Unsinn. Im Kindergarten lernen wir interaktiv, spielerisch und in der Gruppe – und genauso müssen wir auch lernen. Wir merken uns Dinge besser, die mit positiven Dingen, mit Freude und Spaß verbunden sind. Wir brauchen viel mehr Gruppenarbeit, eigenständiges Lernen und Freiheiten. Da müssen wir die Lehrer weiterbilden und die Lehrmedien weiterentwickeln. Früher wurden Lehrbücher einmal gedruckt und gut. Heute sind wir durch Computer in der Lage, diese interaktiv zu gestalten, ständig zu verändern und auf dem neuesten Stand zu halten. Das müssen wir nutzen. Auch in Organisationen.


Herr Professor Voelpel, vielen Dank für das Gespräch.


Zur Person

Sven Voelpel ist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Jacobs University Bremen. Voelpel studierte als Doktorand an der Harvard University und begann 2001 seine Karriere in der Lehre im Bereich der Strategie- und Organisationslehre. Seit dem lehrte und forschte er an vielen renommierten Universitäten und Instituten weltweit, u.a. an der Universität St. Gallen und der Tsinghua-Universität in Peking. Fokus sind Geschäftsmodelle, Strategien für das Überleben und die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen im demografischen Wandel. Besonderes Augenmerk gilt den Chancen und Risiken, die alternde Belegschaften in Hinsicht auf Innovation bieten. 2007 hat er das „WDN – WISE Demografie Netzwerk“ gegründet, ein Forum zum Meinungs- und Erfahrungsaustausch mit Branchengrößen wie Mercedes-Benz, der Deutschen Bahn, Deutschen Bank und Volkswagen sowie weiteren dazugekommenen Mitgliedern. Gemeinsam setzen sie Forschungsprojekte um, die Herausforderungen des demografischen Wandels begegnen – ob Fachkräftemangel oder immer ältere Mitarbeiter. Sein neuestes Buch "Entscheide selbst, wie alt du bist", beschäftigt sich mit den Herausforderungen des Alterns, für uns persönlich aber auch für die Gesellschaft.


Welche Services die WFB Wirtschaftsförderung Bremen GmbH bei der Digitalisierung ihres Unternehmens bietet, finden Sie auf der Übersichtsseite Digitalisierung.

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