
Gabriele Steinbach fährt mit ihrem grünen Damenfahrrad auf den Vorplatz am Bremer Hauptbahnhof zu. Ihr fällt sofort ein Mann im Rollstuhl auf. Er hat sich direkt vor dem Eingang postiert. Die 72-jährige pensionierte Ärztin steigt vom Fahrrad ab, schiebt es und geht auf ihn zu. Sie fragt, ob er medizinische Hilfe braucht. Gibt es eine Wunde zu verbinden? Sie kennt den Mann vom Sehen. Er stellt sich als Timo vor. Er ist 34, hat nur noch ein Bein und lebt seit zwei Jahren auf der Straße. Ein Schicksal wie das seine hat Gabriele Steinbach so oder ähnlich schon häufig erzählt bekommen. Seit fast elf Jahren ist sie ehrenamtlich als „Medizin-Engel“ für Wohnungslose in der Bremer Innenstadt unterwegs. „Ich mache Barfußmedizin“, sagt Gabriele Steinbach.
Jeden Mittwoch um 11 Uhr beginnt die Tour
Jeden Mittwochvormittag packt sie zu Hause ihren lilafarbenen Rucksack: Er ist prall gefüllt mit Verbandsmaterial, Salben, Desinfektionstüchern, einem Stethoskop, einem Blutdruckmessgerät. Die Ärztin weiß schließlich nie im Voraus, was sie brauchen wird. Medikamente hat sie nicht dabei, nur Kohletabletten und Paracetamol. „Ich kann nichts geben, was Nebenwirkungen hat.“ Um 11 Uhr beginnt ihre Tour: Die Pilotenbrille ins graue Haar gesteckt, fährt sie mit ihrem Fahrrad die Plätze der Menschen ohne festen Wohnsitz ab, um sie medizinisch zu versorgen. Sie macht das auf eigene Faust, ohne Verein oder Institution im Rücken.
Wenn es die Temperaturen zulassen, zieht sie ihren knallgelben Regenmantel an. So erkennen ihre Schützlinge sie bereits von weitem. Doch an diesem Tag ist es zu kalt dafür, sie hat sich eine warme Jacke übergezogen. Inzwischen braucht die Bremerin ihr gelbes Markenzeichen aber auch gar nicht mehr: Die Menschen auf der Straße kennen sie und freuen sich, wenn sie sie sehen. Nicht immer brauchen sie medizinische Hilfe, manchmal wollen sie einfach reden. „Ich bin auch Seelentröster“, sagt Gabriele Steinbach.
Als leitende Oberärztin in Klink gearbeitet
Die 72-Jährige arbeitete zuletzt als leitende Oberärztin im Klinikum Bremen-Nord. Als sie in Rente ging, war ihr klar: „Ich muss irgendetwas tun. Ich kann nicht von hundert auf null gehen.“ Sie wollte sich für Menschen engagieren, denen es nicht so gut geht wie ihr. Daher meldete sie sich bei der Inneren Mission. Dort wurde ihr gesagt, sie könne dabei helfen, Essen zu verteilen. „Das war nicht mein Ding“, berichtet sie. Steinbach wollte das machen, was sie konnte: Menschen medizinisch versorgen. Dass das geklappt hat, hat sie Streetworker Jonas Pot d’Or von der Inneren Mission zu verdanken. „Ein Jahr lang bin ich mit ihm mitgegangen“, erzählt sie. So gewann sie das Vertrauen der Obdachlosen, durfte ihre Wunden versorgen und verbinden, frische Fäden ziehen. „Auf die Art haben sie mich kennengelernt. Ohne Jonas Pot d’Or hätte ich Mühe gehabt, die Menschen anzusprechen.“
Denn die meisten, die auf der Straße leben, seien eher verschlossen. Viele hätten schlechte Erfahrungen gemacht. Oder sie schämten sich. Das erlebt Gabriele Steinbach immer noch oft. „Es muss ihnen schon richtig schlecht gehen, dass sie mir ihre Wunden zeigen“, erzählt sie. „Manchmal kann ich sie mit einer Packung Taschentücher bestechen.“ Auch Timo will ihr an diesem Tag nicht seine Wunde am Bein zeigen. Aber nächste Woche - das verspricht er zumindest. „Gegen 11 Uhr bin ich da“, sagt Steinbach. Heute lässt sie ihm nur Verbandsmaterial da.