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24.3.2021 - Janet Binder

Die radelnde Ärztin

Erfolgsgeschichten

Pensionierte Chirurgin versorgt einmal pro Woche Obdachlose

Gabriele Steinbach fährt jeden Mittwoch mit ihrem Fahrrad und ihrem Rucksack voller medizinischer Materialien die Innenstadt ab, um Obdachlose ärztlich zu versorgen.
Gabriele Steinbach fährt jeden Mittwoch mit ihrem Fahrrad und ihrem Rucksack voller medizinischer Materialien die Innenstadt ab, um Obdachlose ärztlich zu versorgen. © WFB/Sarbach

Gabriele Steinbach fährt mit ihrem grünen Damenfahrrad auf den Vorplatz am Bremer Hauptbahnhof zu. Ihr fällt sofort ein Mann im Rollstuhl auf. Er hat sich direkt vor dem Eingang postiert. Die 72-jährige pensionierte Ärztin steigt vom Fahrrad ab, schiebt es und geht auf ihn zu. Sie fragt, ob er medizinische Hilfe braucht. Gibt es eine Wunde zu verbinden? Sie kennt den Mann vom Sehen. Er stellt sich als Timo vor. Er ist 34, hat nur noch ein Bein und lebt seit zwei Jahren auf der Straße. Ein Schicksal wie das seine hat Gabriele Steinbach so oder ähnlich schon häufig erzählt bekommen. Seit fast elf Jahren ist sie ehrenamtlich als „Medizin-Engel“ für Wohnungslose in der Bremer Innenstadt unterwegs. „Ich mache Barfußmedizin“, sagt Gabriele Steinbach.

Jeden Mittwoch um 11 Uhr beginnt die Tour

Jeden Mittwochvormittag packt sie zu Hause ihren lilafarbenen Rucksack: Er ist prall gefüllt mit Verbandsmaterial, Salben, Desinfektionstüchern, einem Stethoskop, einem Blutdruckmessgerät. Die Ärztin weiß schließlich nie im Voraus, was sie brauchen wird. Medikamente hat sie nicht dabei, nur Kohletabletten und Paracetamol. „Ich kann nichts geben, was Nebenwirkungen hat.“ Um 11 Uhr beginnt ihre Tour: Die Pilotenbrille ins graue Haar gesteckt, fährt sie mit ihrem Fahrrad die Plätze der Menschen ohne festen Wohnsitz ab, um sie medizinisch zu versorgen. Sie macht das auf eigene Faust, ohne Verein oder Institution im Rücken.

Wenn es die Temperaturen zulassen, zieht sie ihren knallgelben Regenmantel an. So erkennen ihre Schützlinge sie bereits von weitem. Doch an diesem Tag ist es zu kalt dafür, sie hat sich eine warme Jacke übergezogen. Inzwischen braucht die Bremerin ihr gelbes Markenzeichen aber auch gar nicht mehr: Die Menschen auf der Straße kennen sie und freuen sich, wenn sie sie sehen. Nicht immer brauchen sie medizinische Hilfe, manchmal wollen sie einfach reden. „Ich bin auch Seelentröster“, sagt Gabriele Steinbach.

Als leitende Oberärztin in Klink gearbeitet

Die 72-Jährige arbeitete zuletzt als leitende Oberärztin im Klinikum Bremen-Nord. Als sie in Rente ging, war ihr klar: „Ich muss irgendetwas tun. Ich kann nicht von hundert auf null gehen.“ Sie wollte sich für Menschen engagieren, denen es nicht so gut geht wie ihr. Daher meldete sie sich bei der Inneren Mission. Dort wurde ihr gesagt, sie könne dabei helfen, Essen zu verteilen. „Das war nicht mein Ding“, berichtet sie. Steinbach wollte das machen, was sie konnte: Menschen medizinisch versorgen. Dass das geklappt hat, hat sie Streetworker Jonas Pot d’Or von der Inneren Mission zu verdanken. „Ein Jahr lang bin ich mit ihm mitgegangen“, erzählt sie. So gewann sie das Vertrauen der Obdachlosen, durfte ihre Wunden versorgen und verbinden, frische Fäden ziehen. „Auf die Art haben sie mich kennengelernt. Ohne Jonas Pot d’Or hätte ich Mühe gehabt, die Menschen anzusprechen.“

Denn die meisten, die auf der Straße leben, seien eher verschlossen. Viele hätten schlechte Erfahrungen gemacht. Oder sie schämten sich. Das erlebt Gabriele Steinbach immer noch oft. „Es muss ihnen schon richtig schlecht gehen, dass sie mir ihre Wunden zeigen“, erzählt sie. „Manchmal kann ich sie mit einer Packung Taschentücher bestechen.“ Auch Timo will ihr an diesem Tag nicht seine Wunde am Bein zeigen. Aber nächste Woche - das verspricht er zumindest. „Gegen 11 Uhr bin ich da“, sagt Steinbach. Heute lässt sie ihm nur Verbandsmaterial da.

Gabriele Steinbach gibt dem Obdachlosen Timo Verbandsmaterial für seine Wunde am Bein. Sie ist in der Szene eine Institution.
Gabriele Steinbach gibt dem Obdachlosen Timo Verbandsmaterial für seine Wunde am Bein. Sie ist in der Szene eine Institution. © WFB/Jörg Sarbach

„Wenn ich das nicht mache, dann macht es keiner“

Ihre ehrenamtliche Arbeit befriedigt sie: „Es lohnt sich.“ Sie könne oftmals das Schlimmste verhindern. „Wenn ich das nicht mache, dann macht es keiner.“ Zwar bietet auch der „Verein zur Förderung der medizinischen Versorgung Obdachloser im Land Bremen“ an drei Standorten eine Notversorgung an. Doch Steinbach hat schon erlebt, dass für ihre Schützlinge die Hürde oftmals immer noch zu hoch ist, in die Praxisräume zu gehen. In Bremen gibt es Schätzungen zufolge rund 500 wohnungslose Menschen. Genaue Zahlen existieren nicht, statistisch werden sie nicht erfasst. Manche leben permanent auf der Straße, andere sind ohne festen Wohnsitz, schlafen in Notunterkünften oder Wohnheimen.

„Man lernt eine Parallelwelt kennen“

Die Gründe für Obdachlosigkeit sind vielfältig. Gabriele Steinbach hat schon viele Lebensgeschichten gehört: „Man lernt eine Parallelwelt kennen. Nicht wenige haben studiert, sind Handwerker, haben ein Leben vor diesem Leben gehabt.“ Irgendwann sei eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt worden, oft nach Trennungen, worauf Alkoholsucht, Job- und schließlich der Wohnungsverlust folgten. So wie bei Kalle. Den Mittsechziger kennt Gabriele Steinbach schon seit zehn Jahren. „Er ist Ingenieur gewesen, hatte Frau und Familie.“

Manchmal unterstützt der „Medizin-Engel“ die Suppenengel: An diesem Tag verteilt sie Masken.
Manchmal unterstützt der „Medizin-Engel“ die Suppenengel: An diesem Tag verteilt sie Masken. © WFB/Sarbach

Medizinisches Material stammt aus Spenden

Kalle hat an diesem Tag eine Wunde am Zeh, sie muss versorgt werden. Steinbach geht mit ihm in die Räume der Bahnhofsmission. Dort ist es ruhig, sie kann sich dort ganz auf ihre Arbeit konzentrieren. Kalle freut sich sichtlich, gut gelaunt zieht er mit frischem Verband weiter. Das medizinische Material in Steinbachs Rucksack stammt aus Spenden: Wundauflagen oder Pflaster aus abgelaufenen Verbandskästen bekommt sie regelmäßig geschenkt.

Manchmal bekommt sie auch eine Geldspende, so wie vor gut einem Jahr 1000 Euro vom Bremer Lions Club. „Frau Steinbach ist eine sehr engagierte Ärztin“, sagt Bettina Berg vom Lions Club. In der Obdachlosenszene sei sie längst eine Institution. „Sie hat eine herzliche, aber auch burschikose Art und weiß sehr gut, mit den Menschen umzugehen. Ich denke, dass das nicht immer einfach ist.“ Steinbach sei aber durchsetzungsstark und kenne keine Hemmschwelle. „Das ist bewundernswert“, betont Berg.

Später an diesem Mittwoch schaut die Ärztin im Nelson-Mandela-Park vorbei. Es ist inzwischen 13 Uhr und der Verein „Die Bremer Suppenengel“ verteilt dort ein warmes Mittagessen. Sie begrüßt das Helferteam, man kennt sich. Von den Menschen in der Warteschlange braucht aktuell niemand ihre Hilfe. Die Suppenengel bitten sie daher, medizinische Masken an die Wartenden zu verteilen – die Masken wurden in großer Zahl gespendet. Anschließend wird Gabriele Steinnach nach Hause fahren und ihren Rucksack zu Hause abstellen. Bis sie ihn am nächsten Mittwoch wieder in ihren Fahrradkorb legt und losfährt.
 
Pressekontakt:
Gabriele Steinbach, E-Mail: gastbrem@t-online.de
 
Bildmaterial:
Das Bildmaterial ist bei themengebundener Berichterstattung und unter Nennung des jeweils angegebenen Bildnachweises frei zum Abdruck.
Foto 1: Gabriele Steinbach fährt jeden Mittwochvormittag mit ihrem Fahrrad und ihrem Rucksack voller medizinischer Materialien die Innenstadt ab, um Obdachlose ärztlich zu versorgen. © WFB/Jörg Sarbach
Foto 2: Gabriele Steinbach gibt dem Obdachlosen Timo Verbandsmaterial für seine Wunde am Bein. © WFB/Jörg Sarbach
Foto 3: Manchmal unterstützt der „Medizin-Engel“ die Suppenengel: An diesem Tag verteilt sie Masken. © WFB/Jörg Sarbach
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