Von „Viertel-Kindern“ und auf Vinyl gepresste Emotionen
KreativwirtschaftPlattenläden in Bremen
Volker Sieberg hat sein Hobby zum Beruf gemacht: Mit Musik erreicht er Menschen – früher als DJ, heute als Inhaber einer riesigen Sammlung verschiedenster Kompositionen, gepresst auf Vinyl. Gemeinsam mit Norbert Fecker betreibt er den Plattenladen Hot Shot Records. Auch Marc Braun und Guido Gulbins sind aus Leidenschaft in der Musikszene gelandet. 2019 eröffneten sie ihren Laden Black Plastic im Viertel.
In den 80ern tanzten Menschen zu Volker Siebergs Musik in der damals angesagten Bremer Rock-Diskothek Aladin. Wer wissen wollte, von welcher Band der aufgelegte Beat stammt, kam zu Sieberg ans DJ-Pult. Der Bremer beginnt, nebenher Platten zu verkaufen – zunächst vom Sofa aus. 1991 eröffnet er seinen ersten Laden Hot Shot Records im Steintorviertel. Kurze Zeit später steigt Norbert Fecker, bis dahin einer von Siebergs besten Kunden, mit ein. „Damals gab es noch jede Menge Schallplattenläden in Bremen, ungefähr 20 bis 25 müssten das gewesen sein, auch CD-Verleihe“, erzählt Fecker rückblickend. Heute sind es nicht mehr ganz so viele, jedoch gewann die Bremer Musikszene erst 2019 doppelten Zuwachs: mit Black Plastic und dem Studio Illegale, das vor allem elektronische Musik anbietet.
Vom heimeligen Laden zum Riesen im Schallplattengeschäft
Inzwischen blicken Sieberg und Fecker mit Hot Shot Records auf eine lange Geschichte zurück. Vom „Viertel“, wie die kultigen Stadtteile Ostertor- und Steintorviertel in Bremen liebevoll abgekürzt werden, ging es in zentrale Innenstadtlage: zunächst in die Obernstraße, anschließend in den Lloydhof und nur wenige Gehminuten weiter in die Knochenhauerstraße. Seit acht Jahren kommt ein Großteil der Sammlung hier im ersten Stock auf riesiger Ladenfläche unter – die Umzugsserie scheint vorerst beendet. „Unsere Kunden sagen oft, der erste Laden war der tollste, weil er so familiär und heimelig war. Nachmittags zwischen halb vier und vier Uhr kam kaum jemand, dann gab es Kaffee und Kuchen“, erzählt Fecker von den vergangenen Viertel-Zeiten. Grundsätzlich akzeptierten die Bremerinnen und Bremer aber die aktuellen Verkaufsräume in der Innenstadt, auch wenn sie „vierteltreu“ seien. Fecker für seinen Teil steht mit beiden Beinen in der Gegenwart: „Menschen verändern sich, gesellschaftliche Verhältnisse verändern sich – und das ist auch okay“, sagt er.
Als größter unabhängiger Plattenladen Europas ist Hot Shot Records seinen Kinderschuhen längst entwachsen. Auf der Ladenfläche kommen heute ca. 100.000 Schallplatten, CDs und DVDs unter. Passende Merchandise-Artikel gibt es nebenan bei Go Bäng!. Die familiäre Atmosphäre ist trotzdem noch spürbar: beim herzlichen „Moin“ zur Begrüßung, beim lockeren Gespräch zwischen Mitarbeitenden und Kundschaft. „Es ist nicht wichtig, dass die Leute etwas kaufen. Wir wollen ein Erlebnis bieten“, sagt Fecker. Und das kommt an – viele Menschen halten sich über Stunden im Laden auf, beim Stöbern sind keine Grenzen gesetzt. Die Kundschaft reicht dabei bis nach Norwegen: „Zwei bis dreimal im Jahr kommt ein Kunde aus Oslo eingeflogen, immer nur für einen Tag. Der kommt nur für den Einkauf hierher“, lacht Fecker – auch wenn das Ganze ökologisch gesehen natürlich ein Fiasko sei.
Ein bis zwei Paletten Neuware treffen täglich von insgesamt 80 bis 100 Firmen ein. Zusätzlich kaufen Sieberg, Fecker und ihr Team an, was Menschen nicht mehr hören. „Jemand anders freut sich über die zehn Lieblingsplatten“, die zum Beispiel bei einer Haushaltsauflösung übrig bleiben, meint Fecker. Was früher Fachzeitschriften und die Auskunft des DJ waren, ist heute das Radio: „Die meisten Kunden wissen schon genau, was sie haben wollen. Unsere Aufgabe ist es dann, die Platte für den Kunden zu bestellen“, fasst er zusammen. Von Metal und Hardrock über Hip Hop, Jazz und Soul ist alles vertreten – nur klassische Musik bleibt rar.
Als unabhängiger Plattenhandel sichert Hot Shot Records die kulturelle Vielfalt
Was bedeutet es für einen Plattenhandel, unabhängig zu sein? Unternehmensketten wie zum Beispiel der Elektronikanbieter Saturn dürften nur innerhalb ihrer Landesgrenzen Ware bestellen, erklärt der Inhaber. Und weiter: „Hot Shot Records kann weltweit bestellen, wir können Verkauf und Preise unabhängig bestimmen.“ Fecker hat ein Händchen dafür, überall auf der Welt Plattensammlungen aufzuspüren. Eingeschnürt zu Paletten treten die Tonträger ihre Reise nach Bremen mitunter per Schiff an. So könne Hot Shot Records ein viel breiteres Angebot sichern und „die ganze Palette der Kultur abdecken. Das macht kulturelle Vielfalt aus und ist gerade im Zeitalter 2.0 wichtig. Neben dem Mainstream gibt es so viele tolle Interpreten, die es wert sind, entdeckt zu werden“, findet er.
Als Kind der 70er ist er mit großen Namen wie Led Zeppelin und Deep Purple aufgewachsen. Gleichzeitig bleibt der Musikliebhaber immer offen für Neues: „Es ist wichtig, dass man nicht auf seinen Ohren sitzt“, formuliert er treffend. Lauscht er neuen Klängen und Tonspuren, geht Fecker gedanklich seine Kundinnen und Kunden durch: Könnte das Musikstück einer bestimmten Person besonders gefallen? „Wir sind Gefühlshändler“, meint er lächelnd – immer der Absicht folgend, mit der richtigen Musik das gute Gefühl eines vergangenen Erlebnisses auszulösen. Das i-Tüpfelchen seiner Arbeit: Interpreten zu empfehlen, die er selbst nicht mag.
2019 eröffnet Black Plastic Bremen im Viertel
Auch bei Black Plastic gibt es alles außer Klassik, dafür umso mehr Hip Hop, Punk und Jazz. „Die Leute kommen extra deshalb zu uns“, verrät uns Geschäftsführer Marc Braun, der selbst am liebsten Jazz und Punk hört. Im Gegensatz zu Hot Shot Records verkauft Black Plastic ausschließlich Vinyl – wer jedoch explizit fragt, bekommt auch die persönliche Wunsch-CD bestellt.
Der studierte Soziologe war seit 1986 beim Plattenladen Ear angestellt, der lange Zeit als Institution der Bremer Musikszene galt. Einige Jahre später packt der Bremer seine Habseligkeiten samt drei Paletten Schallplatten zusammen, Ziel: Lissabon. Denn wie Braun sagt: „Platten verkaufen macht überall froh.“ Seine Idee geht auf, er bleibt fast zehn Jahre in der portugiesischen Hauptstadt. Nacheinander betreibt er einen Plattenhandel in zwei Ladengeschäften, Godzilla und King Size, veranstaltet Konzerte und arbeitet fürs Radio. „Ich habe viel mitgenommen aus Lissabon, das war eine ganz tolle Zeit“, sagt er heute.
Nach seiner Rückkehr ist „Viertel-Kind“ Braun wieder im Plattenhandel Ear beschäftigt – bis der Laden 2018 seine Türen schließt. Ist es der passende Moment für Braun, die Institution zu übernehmen? Auch wenn viele Musikbegeisterte aus der Szene ihn darauf ansprechen, er selbst wünscht sich jüngere Inhaber für den Ear-Laden. Stattdessen überzeugen Braun und Gulbins einen langjährigen Musikfreund aus Dortmund, dessen Plattenhandel Black Plastic mit einem zweiten Ladengeschäft in Bremen zu erweitern: Black Plastic Bremen entsteht als Kollektiv. Nach gemeinsamer Ladensuche mit Unterstützung der Wirtschaftsförderung Bremen (WFB) eröffnet Black Plastic im Juli 2019 nur einen Katzensprung vom ehemaligen Ear entfernt, umgeben von alternativer Szene. „Die Nachbarschaft ist großartig. Man weiß nie, was einen morgens erwartet“, lacht er. Das Viertel habe sich aber auch verändert, es seien heute weniger inhabergeführte Läden als früher.
Brauns Philosophie sind Platten für jeden Geldbeutel. Eine Platte könne drei Euro, aber auch 300 Euro kosten. Als teuerster Tonträger ging einmal Jazz aus den 50ern für ganze 700 Euro über den Ladentisch. Natürlich seien immer mal wieder teure Raritäten zu finden, die zu leidenschaftlich Sammelnden ins Regal wandern. Vor allem möchte Braun aber solche Platten verkaufen, die fortan rauf- und runter gehört werden – ohne Sorge vor Verschleiß. „Musik zum Hören ist wichtiger als Musik zum Sammeln“, findet er. Genauso mischt sich auch das Publikum im Laden, von der Teenagerin bis zum Rentner sei alles dabei. „Black Plastic ist auch ein sozialer Anlaufpunkt. Die Leute kommen einfach vorbei, wir haben viele Kontakte“, sagt er.
Online-Plattenverkauf hilft im Corona-Lockdown
Mit dem zweiten Lockdown in der Corona-Pandemie bleiben die Türen von Hot Shot Records und Black Plastic vorerst geschlossen. Währenddessen geht der Plattenhandel online weiter: Black Plastic verkauft auf der Plattform Discogs, Hot Shot Records im eigenen Webshop. Normalerweise nutzen Marc Braun und Guido Gulbins das Onlinegeschäft als Ergänzung zum analog geführten Laden: Auf Discogs verkauft Black Plastic nur Schallplatten, die es vor Ort nicht gibt – und umgekehrt. „Das soll unser Plus an Service sein“, sagt Braun. Während des Lockdowns sind aber auch die Platten im Ladengeschäft erreichbar: An sechs Wochentagen können Tonträger im Ladengeschäft bestellt und vor Ort an der Tür abgeholt werden. Wer nicht persönlich vorbeikommen kann, wird trotzdem bedient: „Wir sind auch schon zu Leuten nach Hause gefahren“, erzählt Braun. Auch Hot Shot Records kommt mit dem digitalen Handel über die Runden. „Wir bringen uns immer wieder ins Gespräch“, sagt Inhaber Fecker, auch wenn er „kein Telefonmensch“ sei. Umso mehr freut er sich darauf, wenn das stundenlange Stöbern im Laden wieder losgeht.
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