Wie die falsche Umlaufbahn zweier Satelliten zum Glücksfall für einen Bremer Professor wurden
WissenschaftFalsche Umlaufbahn als Glücksfall
Was den einen ärgert, freut den anderen: Ein Bremer Physikprofessor nutzt zwei fehlgeleitete Galileo-Satelliten für seine Forschungen zu Einsteins Relativitätstheorie. Die ellipsenförmige Umlaufbahn hatte sein Interesse geweckt.
Dass „Milena“ und „Doresa“ einmal die Forschung zu Albert Einsteins Relativitätstheorie unterstützen würden, ahnte am 22. August 2014 noch niemand. An diesem Tag wurden die beiden Satelliten an Bord einer russischen Sojus-Trägerrakete ins All geschossen, um dort zum Aufbau des europäischen Navigationssystems Galileo beizutragen. Doch auf den gelungenen Raketenstart am europäischen Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guyana folgte eine böse Überraschung: Im oberen Teil der Rakete, der sogenannten Fregat-Oberstufe, fror kurzzeitig Treibstoff ein. Offenbar befand sich die Leitung zu nah an einer anderen Leitung mit extrem kaltem, flüssigen Helium. Die Raketen-Oberstufe erreichte daher nicht die geplante Höhe. Statt auf der mittleren Erdumlaufbahn wurden die beiden Satelliten auf einer ellipsenförmigen Umlaufbahn ausgesetzt.
Erdanziehungskraft beeinflusst die Zeit
„Das war für die Galileo-Entwickler zwar ärgerlich, aber mich hat diese Meldung aufhorchen lassen“, erinnert sich Claus Lämmerzahl. Der Bremer Physikprofessor ist geschäftsführender Direktor des Zentrums für Angewandte Raumfahrtforschung und Mikrogravitation, kurz ZARM, an der Universität Bremen. Besonders die ellipsenförmige Umlaufbahn weckte sein Interesse. Denn sie sorgt dafür, dass der Abstand der Satelliten zur Erdoberfläche erheblich variiert. Mal sind „Milena“ und „Doresa“ 17.382 Kilometer von der Erdkugel entfernt, mal 25.818 Kilometer. „Das macht sie als Navigationsgehilfen zwar nur sehr eingeschränkt einsetzbar, könnte aber die Forschungen zu Albert Einsteins Relativitätstheorie erheblich präzisieren“, sagt Lämmerzahl. Denn eine der zentralen Aussagen der Allgemeinen Relativitätstheorie ist die sogenannte gravitative Rotverschiebung: Sie besagt, dass Gravitation – in diesem Fall die Erdanziehungskraft – die Zeit beeinflusst. So läuft eine Uhr, die an der Spitze eines hohen Gebäudes angebracht ist, aufgrund der dort schwächeren Gravitation geringfügig schneller als eine Uhr am Fuße desselben Gebäudes. Und auch die Uhren der Satelliten laufen somit in 25.818 Kilometern Höhe schneller als in 17.382 Kilometern Höhe.
Keine Entschuldigung für Unpünktlichkeit
Im menschlichen Alltag sind solche Zeitunterschiede allerdings nicht spürbar. So braucht im Erdgeschoss eines Wolkenkratzers niemand darüber nachzudenken, wie spät es jetzt wohl gerade bei den Kollegen im obersten Stockwerk ist. Denn die Zeitdifferenzen betragen selbst in Hochhaus-Giganten wie dem Empire State Building in New York oder dem Burj Khalifa in Dubai nur winzige Sekundenbruchteile. Als Entschuldigung für Unpünktlichkeit kann die Relativitätstheorie also nicht dienen.
Aus wissenschaftlicher Sicht sei es dennoch hilfreich, den Wert der Rotverschiebung möglichst genau zu kennen, sagt Lämmerzahl.
Denn je präziser man weiß, wie Gravitation sich auf die Zeit auswirkt, desto genauer lassen sich mithilfe extrem präziser Uhren zum Beispiel Höhenunterschiede auf der Erde ermitteln.
Prof. Dr. Claus Lämmerzahl, Geschäftsführender Direktor des Zentrums für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM)
Darin sieht er eine Chance für die Geodäsie, also die Wissenschaft von der Ausmessung und Abbildung der Erdoberfläche.
Auf der Suche nach einer übergeordneten Theorie
Zudem gebe es Ungereimtheiten zwischen Einsteins Relativitätstheorie und der Quantenmechanik, also jener Theorie, mit der die moderne Physik Materie und ihre Eigenschaften beschreibt. „Es muss also eine übergeordnete Theorie geben, die sogenannte Quantengravitation. Und alle Ansätze für eine solche Theorie sagen kleine Verletzungen der allgemeinen Relativitätstheorie voraus“, so Lämmerzahl. Daher sei es wichtig, alle Effekte der allgemeinen Relativitätstheorie immer genauer nachzuprüfen.
Das bislang präziseste Experiment zum Einfluss der Gravitation auf die Zeit liegt viele Jahre zurück. Forscher verglichen 1978 zwei hochgenaue Uhren miteinander. Die eine blieb auf der Erde, die andere wurde einmalig an Bord einer Rakete in eine Höhe von 10.000 Kilometern geschossen. Bereits damals ließ sich die von Einstein vorhergesagte Rotverschiebung bis auf vier Stellen nach dem Komma genau nachweisen. Claus Lämmerzahl rechnet nun damit, das Phänomen zehnmal so genau belegen zu können wie damals. „Ich bin da sehr zuversichtlich“, sagt er. „Wir haben den Vorteil, dass wir uns im Gegensatz zu den Kollegen im Jahr 1978 nicht auf das Datenmaterial eines einzigen Experiments verlassen müssen. Schließlich ändern die Satelliten zweimal täglich ihre Höhe um fast 8.500 Kilometer. Dadurch liefern sie eine gewaltige Datenmenge.“ Und das äußerst zuverlässig: Schließlich sind die Galileo-Satelliten mit hochpräzisen Atomuhren ausgestattet, die die Zeit so genau messen, dass die Abweichung gerade einmal etwa eine Sekunde in einer Million Jahren beträgt.
Wissenschaftliches Recycling
Forschungsteams verschiedener Institute hätten in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder entsprechende Projektanträge dazu gestellt, betont Lämmerzahl. Diese seien aber aufgrund immenser Kosten und hoher technischer Anforderungen nicht bewilligt worden. Nun also hat ausgerechnet eine Panne beim Aussetzen zweier Satelliten Forschungsbedingungen geschaffen, nach denen sich manche Wissenschaftler seit Jahrzehnten gesehnt hatten. Der Physiker ist sich der Ironie dieser Situation durchaus bewusst – vor allem aber war er schnell genug, um seinem Institut die Vorteile zu sichern, die sich daraus ergaben. Seine Überlegung: Warum sollte man nicht die Daten nutzen, die durch einen Zufall ohnehin massenweise produziert werden? Lämmerzahl spricht von wissenschaftlichem Recycling – und überzeugte mit seiner Idee sowohl das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) als auch die Europäische Weltraumagentur ESA. Auf diese Weise sicherte er dem Institut nicht nur die Satellitendaten, sondern auch finanzielle Unterstützung von insgesamt rund 600.000 Euro.
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Ein fünfköpfiges Team im ZARM hat im Dezember 2015 damit begonnen, die Zahlenkolonnen aus dem All systematisch zu erfassen und auszuwerten. Zwei Jahre lang dauert das Projekt, das sich im ZARM in eine ganze Reihe verschiedener Projekte zur Allgemeinen Relativitätstheorie, Geodäsie, Quantenmechanik und Satellitendynamik einreiht. Am bekanntesten ist das Institut für seinen 146 Meter hohen Fallturm, der als Wahrzeichen des Bremer Technologieparks und des Universitätscampus dient. Seit einem Vierteljahrhundert finden hier Experimente in der Schwerelosigkeit statt. Weltraumwissenschaften, Raumfahrttechnologie und Strömungsmechanik bilden die Schwerpunkte des Instituts. „Für uns ist die Kombination vieler unterschiedlicher Expertisen ein großer Vorteil, weil wir damit sowohl Grundlagenforschung als auch anwendungsorientierte Forschung zu verschiedenen Themenfeldern unter einem Dach haben“, sagt Lämmerzahl. „Unsere Mitarbeiter bringen ganz unterschiedliche Sichtweisen mit. Dadurch haben wir hier einen sehr lebendigen Austausch, der den einzelnen Projekten zugutekommt.“ An Bremen als Standort für Weltraumtechnologie schätzt Lämmerzahl auch die kurzen Wege. „Diese Dichte an Instituten und Unternehmen der Raumfahrtindustrie ist bundesweit einzigartig“, sagt er.
Blick gen Himmel weckt Neugier
Abseits der konkreten Verwendungsmöglichkeiten sieht Lämmerzahl in der Studie zur Rotverschiebung auch ein Stück Grundlagenforschung, bei der es nicht immer gleich um die Frage nach dem Nutzen gehen müsse: „Wissenschaft ist auch ein Teil unserer Kultur“, sagt er.
Für Außenstehende mag vieles in der Weltraumforschung auf den ersten Blick sehr abstrakt und kompliziert wirken. Aber im Kern geht es ja gerade bei uns um die Fragen, die viele Menschen seit Jahrtausenden umtreiben: Was umgibt uns? Und welche Kräfte wirken im Universum und beeinflussen unser Leben hier auf der Erde?
Prof. Dr. Claus Lämmerzahl, Geschäftsführender Direktor des Zentrums für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM)
Eines ist für ihn klar: „Der Blick Richtung Himmel fasziniert uns Menschen immer wieder.“ Das lasse sich an den Werken von Astronomen der Antike ebenso erkennen wie am „Star Wars“-Kult der Gegenwart. „Die Geheimnisse die uns umgeben, wecken nun einmal unsere Neugier, unsere Phantasie und unseren Forschungsdrang.“
Mehr Informationen gibt es unter www.zarm.uni-bremen.de
Pressekontakt: Prof. Dr. Claus Lämmerzahl, Geschäftsführender Direktor des Zentrums für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM), Tel. 0421 – 21 85 78 34, claus.laemmerzahl@zarm.uni-bremen.de
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