Vorne oder hinten? Wie eine Kugel den Orientierungssinn erforscht
WissenschaftEine Kugel für die Forschung
In einer fast drei Meter hohen, begehbaren Kugel an der Universität Bremen dreht sich buchstäblich alles um Orientierung. Die Forscher wollen wissen: Wie orientieren sich Menschen, wenn sie unterwegs sind? Was hilft ihnen, sich zurechtzufinden?
Die ersten Schritte sind wacklig. „Schauen Sie nicht auf die Kugel. Schauen Sie zu mir“, sagt Thorsten Kluß mit ruhiger Stimme und blickt von außen durch die durchsichtige Wand der begehbaren Kugel. Sie liegt in einer Art Mulde mit vielen Rollen. Diese sorgen dafür, dass sich die Kugel mit jedem Schritt ein Stück weiterdreht, ohne dabei durch den Raum zu kullern. Wer sich drinnen bewegt, läuft wie in einem Hamsterrad – allerdings mit dem Unterschied, dass er auch nach links oder rechts weitergehen könnte. Wohlgemerkt: Könnte.
Denn dazu sind die ersten Schritte noch zu unsicher. Die Arme strecken sich, die Hände suchen nach Halt. „Am Anfang bewegt sich fast jeder etwas unbeholfen in der Kugel“, sagt Kluß aufmunternd. „Aber das gibt sich schnell.“ Der Psychologe arbeitet am Institut für Kognitive Neuroinformatik an der Universität Bremen und führt häufig Versuchsteilnehmer in die als „Virtusphere“ bezeichnete Kugel, um dort deren Orientierungsvermögen zu erkunden. Der Versuchsaufbau ist bundesweit einmalig.
Eine Art Joystick für die Füße
Als die Schritte etwas sicherer werden, öffnet Thorsten Kluß die Klappe der Kugel und reicht ein sogenanntes Head Mounted Display hinein, einen kleinen Bildschirm an einem Gurt, den man sich um den Kopf schnallen kann. Wer auf den Monitor schaut, taucht in eine virtuelle Welt ein, die aus langen, bunten Gängen besteht. Mit jedem echten Schritt geht man auch auf den virtuellen Fluren einen Schritt weiter. Dafür sorgen Sensoren unter der Kugel, die jeden Schritt registrieren und an das Display übertragen. Die Kugel ist, wenn man so will, ein riesiger Joystick, den man mit den eigenen Füßen steuern kann.
Wie orientieren sich Menschen, wenn sie unterwegs sind? Was hilft ihnen, sich zurechtzufinden? Und wann verlaufen sie sich? Um solche Fragen geht es bei den Versuchen in der Kugel. „Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass das menschliche Gehirn unterwegs eine Art innere Landkarte konstruiert“, sagt Kluß. „Die Versuchsergebnisse deuten allerdings darauf hin, dass dies nicht der Fall ist.“ Denn bei den Experimenten in der Kugel beweisen die meisten Versuchspersonen auch dann noch Orientierungssinn, wenn auf den Wegstrecken optische Täuschungen eingebaut wurden. Die Wissenschaftler hatten die virtuellen Räume zuvor so programmiert, dass an einigen Stellen gezielt geometrische Gesetze verletzt wurden. „Eine innere Karte hätte die Probanden hier in die Irre geführt“, sagt Kluß.
Orientierung, das zeigen die Experimente in der Kugel, ist offensichtlich eine weitaus komplexere Leistung des Gehirns als bislang angenommen. „Unser Orientierungssinn entwickelt sich offenbar vor allem anhand von dem, was wir unterwegs wahrnehmen, gemeinsam mit den Aktionen und Bewegungen, die zu diesen Wahrnehmungen führen“, sagt die Informatik-Professorin Kerstin Schill, die das Institut leitet. „Markante Orte können bei der Orientierung helfen, aber auch Geräusche oder Gerüche – allerdings immer in Kombination mit den dazugehörigen Aktionen.“ Ein fortwährendes Zusammenspiel der Sinne und der Motorik. Alltäglich und faszinierend zugleich.
Seit rund fünf Jahren wird an der Universität Bremen in der Virtusphere geforscht. Sie wurde in den USA erfunden und ist ursprünglich ein Produkt der Freizeit- und Unterhaltungsindustrie. In Las Vegas zum Beispiel kann man in der etwa 100.000 Euro teuren Kugel Videospiele spielen.
Für unsere Forschung ist die Kugel vor allem deshalb reizvoll, weil man in ihr mit echten Bewegungen virtuelle Welten erkunden kann. Das kommt realen Erkundungssituationen näher als das bloße Navigieren am PC.
Prof. Kerstin Schill,Universität Bremen
Zudem ermöglicht die Kugel platzsparende Experimente auf einer potenziell unendlich großen virtuellen Fläche. Für ältere Versuchspersonen, denen das Laufen in der Kugel schwer fallen würde, gibt es einen vereinfachten Versuchsaufbau: Ein Laufband mit einem breiten Haltegriff und einer großen Leinwand, auf der ebenfalls virtuelle Räume eingeblendet werden.
Orientierungssysteme für demente Menschen
Die Erkenntnisse, die sich aus den Versuchen ableiten lassen, sind für verschiedene Einsatzgebiete interessant. So erforschen die Mitarbeiter des Instituts beispielsweise, was digitale Assistenzsysteme können sollten, damit altersverwirrte Menschen sich im öffentlichen Raum zurechtfinden. Kann ihnen ein Gerät helfen, das wie eine Uhr am Handgelenk getragen wird und die Herzfrequenz und den elektrischen Widerstand der Haut misst, um nur dann Orientierungshilfe anzubieten, wenn der Besitzer offensichtlich nervös ist? Wäre eine Datenbrille sinnvoll, die den Weg einblendet? Oder ein Roboterhund, der schwanzwedelnd in die richtige Richtung voraus läuft? Thorsten Kluß hält verschiedenste Hilfsmittel für denkbar.
Wichtig ist, dass diese Systeme ältere Menschen nicht wie ein Navi nach Hause lotsen, sondern ihnen nur die Hilfe bieten, die sie wirklich brauchen.
Thorsten Kluß, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen
Unnötige Hilfe schwäche den Orientierungssinn und das Selbstvertrauen. „Alte Menschen, die noch immer dort leben, wo sie aufgewachsen sind, können sich zum Beispiel oft gut anhand vertrauter Orte orientieren“, sagt er. „Das kann ihre alte Schule sein, oder die Kirche, in der sie konfirmiert wurden. Sind sie erst einmal dort, finden sie den Weg allein zurück.“
Eis-Maulwurf soll im All nach Wasser suchen
Ein anderer Einsatzbereich der Orientierungsforschung liegt im Weltall. Wasserproben von fremden Planeten könnten Aufschluss darüber geben, ob dort Leben möglich ist. So sondert der kleine Saturnmond Enceladus immer wieder Wasserpartikel ab, in denen sich bereits einfache organische Verbindungen nachweisen ließen. Um aufschlussreichere Wasserproben zu bekommen, müsste jedoch eine dicke Eisschicht durchquert werden. Eine sich selbst steuernde Sonde, auch IceMole – Eis-Maulwurf – genannt, könnte solche Wasserproben zutage fördern. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn sich die Sonde in einer fremden Umgebung orientieren kann, in der kein satellitengesteuertes Navi den Weg weisen kann.
Die Sonde muss sich folglich nur anhand von Informationen zurechtfinden, die sie auf ihrem Weg durchs Eis sammelt. „Die Algorithmen, die wir für die Sonde entwickelt haben, basieren deshalb auf Erkenntnissen, die wir über das menschliche Orientierungsvermögen gewonnen haben“, sagt Kerstin Schill.
Auch die Sonde navigiert sensomotorisch: Sie nutzt sensorische Informationen in Kombination mit ihren eigenen Bewegungen zur Orientierung.
Prof. Kerstin Schill,Universität Bremen
Ein Test in der Antarktis im vergangenen Jahr verlief vielversprechend und förderte Wasser und Bakterien zu Tage, die seit mehreren Millionen Jahren unter dem Eis verborgen waren.
Bis eine Sonde jedoch außerirdische Wasserproben zur Erde bringt, dürfte noch viel Zeit vergehen – und das nicht nur wegen der aufwendigen Planung der Raumfahrtmission: Allein der Weg zum Enceladus würde rund acht Jahre dauern, der Rückweg nochmal so lange. „Das ist schon ein seltsames Gefühl, an einem Projekt zu forschen, das über die eigene Berufslaufbahn hinausreicht“, sagt Kerstin Schill nachdenklich. „Dieser Gedanke ist für mich auf eigenartige Weise faszinierend. Zugleich macht er mir bei der Arbeit auch meine eigene Begrenztheit bewusst.“ Unabhängig davon, wie das Experiment ausgeht – von einem ist Kerstin Schill fest überzeugt: „Die Evolution ist ein guter Lehrmeister. Lebewesen haben über Millionen von Jahren enorme Fähigkeiten herausgebildet. Je besser wir diese Fähigkeiten verstehen, umso zielsicherer können wir hilfreiche Technologien schaffen – egal, ob für demente Menschen oder Weltraumforscher.“
Mehr Informationen zur Virtusphere an der Universität Bremen gibt es unter www.informatik.uni-bremen.de/cog_neuroinf
Pressekontakt: Prof. Dr. Kerstin Schill, Leiterin des Instituts für Kognitive Neuroinformatik an der Universität Bremen, Tel. 0421 – 21 86 42 40, k.schill@informatik.uni-bremen.de
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