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27.3.2017 - Janet Binder

Die mitdenkende Wohnung

Wissenschaft

Im „Bremen Ambient Assisted Living Lab“ wird an sogenannten Smart Homes getüftelt

Die Menschen werden immer älter, die Zahl der Pflegebedürftigen steigt. Viele wollen so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden bleiben. Erleichtert werden könnte das durch eine intelligente Wohnung, die sich den Bedürfnissen der Bewohner anpasst: Mit Schränken oder Waschbecken, die mitdenken. Bremer Forscher arbeiten daran.

Was soll ich heute anziehen? Es wird wohl kaum jemanden geben, der sich das noch nicht morgens mit dem Blick in den Kleiderschrank gefragt hat. Geht es nach Wissenschaftlern am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Bremen könnte der Schrank selbst in Zukunft Vorschläge machen – mithilfe eines integrierten Computers. „Der schaut nach der aktuellen Wettervorhersage und kontrolliert, welche Termine beim Bewohner anliegen“, sagt Serge Autexier vom Forschungsbereich „Cyber-Physical Systems“. Anhand dieser Vorgaben könnte das Möbel dem Nutzer eine Kombination empfehlen.

Wo ist die blaue Krawatte?

Noch gibt es den mitdenkenden Kleiderschrank nicht zu kaufen. Doch Forscher am DFKI sind dabei, ihn langfristig zu entwickeln. Programmiert haben sie schon eine andere Funktion. Der Informatiker Autexier demonstriert sie an einem Prototyp: An einem Bildschirm klickt er eine blaue Krawatte an. Daraufhin leuchtet eine Lampe in dem Fach im Kleiderschrank auf, wo der Schlips liegt. So kann der Bewohner ihn heraus nehmen, ohne groß zu überlegen, wo er sich befindet. Möglich ist das, weil alle Kleidungsstücke mit einem Funk-Etikett ausgestattet und im Computer gespeichert sind.
 

Schrank erinnert Bewohner an die dicke Jacke

Interessant wäre ein intelligenter Schrank nicht nur für Leute, die keine Lust haben, sich mit modischen Fragen zu beschäftigen. Hilfreich könnte solch ein Service auch für Menschen mit Demenz sein, sagt Serge Autexier. „Sie sind oft nicht mehr in der Lage, sich der Jahreszeit entsprechend anzuziehen.“ Der Schrank kann sie daran erinnern, die dicke Jacke anzuziehen. Mit Unterstützung der Technik habe ein Betroffener so die Möglichkeit, länger in den eigenen vier Wänden wohnen zu bleiben.

Technologien in realitätsnaher Umgebung testen

Der Kleiderschrank-Prototyp befindet sich in einem 60 Quadratmeter großem Labor, das aussieht wie eine (fast) normale Wohnung: Im Schlafzimmer steht ein Doppelbett, es gibt ein Bad, ein Wohnzimmer und eine Küchenzeile. Im „Bremen Ambient Assisted Living Lab“, kurz BAALL genannt, können DFKI-Informatiker und Ingenieure zusammen mit Wissenschaftlern und Studierenden der Universität Bremen seit 2009 neue, intelligente Technologien in einer realitätsnahen Umgebung testen. Der 45-jährige Autexier ist Leiter des Labors.

Höhenverstellbares Waschbecken

Schlaue Häuser, sogenannte Smart Homes, haben seit einiger Zeit Hochkonjunktur, zumindest medial. Licht, Heizung oder Rauchmelder kommunizieren untereinander und sind mit dem Mobiltelefon oder dem eigenen Rechner verbunden. Die DFKI-Forscher wollen noch einen Schritt weitergehen:

Die Bewohner sollen bei unseren Innovationen keine Kommandos wie in einem Smart Home geben. Wir wollen erreichen, dass das System von sich aus weiß, was zu tun ist.

Dr.-Ing. Serge Autexier, Leiter des BAALL, Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz GmbH

Um das zu demonstrieren, geht Serge Autexier ins Bad der Laborwohnung und stellt sich vor das Waschbecken. Im Spiegel ist eine Kamera versteckt, die die Größe des Gegenübers erfasst. Automatisch fährt das Becken nun auf die Höhe, die für den Nutzer bequem ist. Profitieren könnten von einer solchen Funktion Rollstuhlfahrer und Nicht-Behinderte, die zusammen in einem Haushalt leben. „Auch für kleine Kinder wäre das sinnvoll“, sagt Autexier.

Technik kommuniziert mit dem Menschen

Anderes Beispiel: Am Nachtschrank im Schlafzimmer ist eine kleine Wärmebildkamera angebracht. Liegt eine Person nach einem Sturz auf dem Boden, erkennt sie das und setzt ein Alarmsystem in Gang. Denkbar wäre, dass der Computer zunächst fragt, ob alles in Ordnung sei, erklärt Autexier. Wenn das bejaht werde, würden weitergehende Schritte eingestellt. Käme ein Nein oder keine Antwort, könnten die programmierten Notfallmechanismen einsetzen. Genau das ist es, was sich die Forscher vorstellen: Dass der Mensch mit der Technik im Dialog steht, sowohl mit Sprache als auch mit Gesten. „Die Technik muss funktionieren, ohne dass der Nutzer sein Verhalten ändert“, betont der Laborleiter.

Techniker sollen nicht nötig sein

So stellt er sich das auch vor, wenn ein Bewohner eine neue Stehlampe kauft. Dann soll es möglich sein, dass nicht extra ein Techniker vorbeikommen muss, um sie in das bestehende Lichtsystem der Wohnung zu integrieren. Ziel der Forscher ist es, dass der Bewohner dem Computer einfach nur sagt: Hier ist die neue Lampe. Die erhält dann einen Namen „und in dem Moment ist sie dem System automatisch bekannt“, sagt der Informatiker.

Kühlschrank liefert Rezeptvorschläge

Die Technik in der BAALL-Wohnung macht auch vor dem Essen nicht Halt. Im Kühlschrank ist eine Kamera eingebaut. So weiß das Gerät, welche Lebensmittel vorhanden sind – und liefert passende Rezeptvorschläge. „Das kann eine Hilfestellung sein zum Beispiel für Menschen mit bestimmten Unverträglichkeiten“, sagt Autexier. Noch ist das eine Vision. Schon einsatzbereit ist dagegen ein intelligenter Rollstuhl, der im Weg stehende Stuhlbeine erkennt und diese Hindernisse automatisch umfährt.

Labor soll Interesse an Informatik wecken

Die BAALL-Wohnung erfüllt viele Funktionen: Zum einen könnten eines Tages Menschen von den erforschten und erprobten Innovationen profitieren. Es dient aber auch als wissenschaftliches Spielfeld für Informatik-Studenten in Kooperation mit anderen Fachdisziplinen. Und die Wohnung hilft, beim weiblichen Nachwuchs Interesse an der Informatik zu wecken. In einem geplanten öffentlich geförderten Projekt sollen Mädchen ab der 5. Klasse für das Fach begeistert werden. Denn dank der Wohnung sei Informatik nicht mehr nur ein abstraktes Fach. „Wir vermitteln zum Beispiel, wie man es schafft, durch Algorithmen den Rollstuhl allein durch die Tür fahren zu lassen“, so Serge Autexier.

Experimente mit Visionen

Vieles in der Labor-Wohnung funktioniert noch nicht ganz perfekt. Das findet Autexier aber auch nicht schlimm. Im Gegenteil: Ständig wird Neues ausprobiert, Visionen sind wichtig. Und diese stoßen auf viel Interesse, nicht nur in der Industrie, sondern auch bei Verbrauchern. So bekam Autexier einmal einen Anruf von einem Rechtsanwalt, der von dem intelligenten Kleiderschrank gehört hatte. „Das System will ich haben“, sagte er begeistert und lieferte auch gleich die Begründung: Er wolle sich morgens keine Gedanken mehr über seine Garderobe machen müssen. Seine Frau sei mit seiner Kleidungswahl meist nicht einverstanden. Autexier musste den Mann enttäuschen. Bis es einen solchen Schrank zu kaufen gibt, haben die Forscher noch viel zu tun. Und letztlich muss sich dann noch ein Unternehmen finden, der ihn auf den Markt bringen will.


Kontakt: BAALL-Leiter Dr.-Ing. Serge Autexier, Forschungsbereich Cyber-Physical Systems, Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz GmbH (DFKI), Tel. 0421 218 59834, Serge.Autexier@dfki.de


Bilddownload

Das Bildmaterial ist bei themengebundener Berichterstattung und unter Nennung des jeweils angegebenen Bildnachweises frei zum Abdruck.

Foto 1: Dr.-Ing. Serge Autexier leitet am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) das Bremen Ambient Assisted Living Lab (BAALL) © Focke Strangmann

Foto 2: So geht nichts mehr verloren: im intelligenten Kleiderschrank im BAALL kann mittels angebrachten Funkchips jedes Kleidungsstück geortet werden. So auch die gesuchte blaue Krawatte, die Serge Autexier dank der wegweisenden Beleuchtung auf Anhieb gefunden hat © Focke Strangmann

Foto 3: Schon betriebsbereit: der Rollstuhl in dem sich Serge Autexier, Leiter des BAALL befindet, erkennt Hindernisse und kann diese eigenständig umfahren © Focke Strangmann

Foto 4: Licht und Co. können bei anderen Smart Home-Projekten vom Nutzer manuell gesteuert werden, aber Dr. Serge Autexier geht im BAALL mit seiner Forschung einen Schritt weiter: Ziel ist es, dass das System weiß, was der Bewohner möchte © Focke Strangmann


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