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30.8.2016 - Martin Höche-Heemsath

Rotorblatt-Inspektion auf 6 Uhr

Windenergie

Wie die Bremer Unternehmen Reetec und Gullyver die Inspektion von Windenergieanlagen effizienter machen

Manchmal können kleine Innovationen ein großes Problem lösen. REETEC und Gullyver ist das für die Windenergiebranche gelungen: Sie haben ein kompaktes Kamerasystem entwickelt, mit dem Rotorblätter von Windenergieanlagen besonders gründlich von innen inspiziert werden können – vertikal. Kai Jäger, Bereichsleiter Rotorblatt und Turmservice (REETEC) und Sebastian Anders, Geschäftsführer von Gullyver Gesellschaft für mobile Inspektionssysteme, erklären, wie das funktioniert.

Harmonisch wiegen sich die hohen Gräser und Blumen im Garten vor dem Gebäude der Firma REETEC im Wind. Passend für den Windenergiedienstleister, der in der Bremer Überseestadt seinen Firmensitz hat. Von hier aus werden Teams koordiniert, die für Windparkbetreiber Rundum-Services erbringen. Der Rotorblatt-Service für Onshore- und Offshore-Anlagen gehört dazu. Oben an den Rotorblättern weht hingegen ein deutlich weniger harmonischer Wind: „Onshore- und offshore sorgen Sandpartikel, Salzkristalle und Regen für eine Erosion der Blattoberfläche. Und im Blattinneren können Stege, Schotten oder Rippen defekt und Delaminationen vorhanden sein“, erklärt Kai Jäger.

Nur 40 Prozent des Rotorblatts sind begehbar

Alle zwei Jahre müssen die Anlagen daher inspiziert werden – so steht es in den „Grundsätzen für die zustandsorientierte Instandhaltung von Windenergieanlagen“. Allerdings gilt dies nur für die begehbaren Bereiche der Anlage. Weil sich das Blatt zur Spitze hin verjüngt, sind aber nur rund 40 Prozent begehbar. „Das war uns zu wenig. Als kleines Unternehmen sind wir gut darin, Sonderlösungen zu finden“, sagt Sebastian Anders. Seine Firma aus der Bremer Neustadt ist auf die Herstellung von Systemen zur Kamerainspektion von Brunnen, Kanälen und Rotorblättern spezialisiert.

Bereits seit längerer Zeit bietet Gullyver einen Kamerawagen für die Inspektion von Rotorblättern an. Dieser fährt waagerecht in das Rotorblatt hinein: entweder noch im Werk, als Teil der Qualitätssicherung vor der Auslieferung oder während der Inspektion einer Windenergieanlage. Dann werden die Rotorblätter bei einer 3-Uhr-Position arretiert und der Kamerawagen fährt hinein. Das funktioniert aber nicht immer reibungslos: „An manchen Hindernissen im Blatt kommt der Kamerawagen einfach nicht vorbei, oder die Krümmung des Blatts macht ein durchgängiges Befahren unmöglich. Also mussten wir uns etwas anderes überlegen“ berichtet Anders.

Die Idee: Vertikale Inspektion von Rotorblättern

Und so kamen Jäger und Anders auf eine verblüffend einfache, aber sehr praktische Idee: Sie entfernten die Räder des Wagens und machten ihn damit zur Kamerasonde: „Wenn wir jetzt das Rotorblatt in der 6-Uhr-Position – also vertikal – arretieren, können wir das Gerät einfach langsam in das Blatt absinken lassen. Bei dieser vertikalen Inspektion sind keine Hindernisse mehr im Weg, und die hochauflösende Kamera kann den Innenbereich filmen“, sagt Anders.

Damit das auch gelingt, lässt sich der Kamerakopf um 360° drehen und dann zwei Mal um 135° schwenken. Die Kamera hat starke LED-Lampen, einen integrierten Laser zur Vermessung sowie einen Meterzähler zur Positionsbestimmung im Blatt. Und mit dem 10-fach optischen Zoom kann man sehr nah an die Prüfstellen herankommen, ohne dass sich die Bildqualität verschlechtert. Zum System gehören außerdem eine Kabeltrommel und ein Steuermodul mit Touchscreen. So kann der Monteur bei der Inspektion kleinste Risse oder Auffälligkeiten erkennen, vermessen und dokumentieren. „Der Vorteil liegt darin, dass die Aufzeichnungen der Rotorblatt-Inspektion später noch analysiert werden können – auch gemeinsam mit dem Kunden. Damit schaffen wir mehr Transparenz“, so Anders.

Worst-Case: Stillstand und Blattverlust

Nach abgeschlossener Inspektion kann REETEC dem Windparkbetreiber einen genauen Report mit Bild- und Videodateien übergeben. „Ich kann meinem Kunden etwa sagen: Im Blatt befindet sich bei Radius 42,2 Meter ein 20,4 cm langer Riss. Das ist die Information, die er braucht. Bislang war dies so exakt nicht immer möglich. Aber genau das ist entscheidend. Denn zwischen zwei und 20 cm Größe des Schadens liegen rund 15.000 Euro Reparaturkosten“, weiß Jäger. Und manchmal treffen die Betreiber dann eben auch die Entscheidung, noch nicht zu reparieren: „Die beiden schlimmsten Dinge für einen Windparkbetreiber sind Stillstand und Blattverlust. Unser System ist dafür gemacht, das zu verhindern. Ich kann kleine Schäden frühzeitig erkennen und dann eine wohlüberlegte Entscheidung treffen. Etwa die Drosselung der Leistung im Winter, statt monatelangem Stillstand. In dieser Zeit kann man dann in Ruhe die Reparatur planen, und die Anlage steht nicht drei Monate still“, erläutert Jäger.

Auch in punkto Arbeitssicherheit ist die Sonde vorteilhaft, weil kein Monteur in das enge Rotorblatt hineinkrabbeln muss. Effizient ist das auch, denn bei einer Wartungsuntersuchung ohne Kamera sind drei Personen vorgeschrieben, um die Sicherheitskette einzuhalten: Eine Person geht in das Blatt, eine steht an der Blattnabe und eine im Maschinenhaus. Bei einer Kamerainspektion reichen zwei Personen aus. Das System passt in zwei Rollkoffer und kann von einer Person transportiert werden. Das ist besonders gut bei der Wartung von Offshore-Anlagen, denn dort gilt: Je weniger Material transportiert werden muss, desto einfacher und kostengünstiger ist es. „6 Rotorblätter, also zwei Anlagen, schaffen wir pro Schicht. Zwei Systeme haben wir im Einsatz, das dritte startet demnächst”, freut sich Jäger.

Nächster Schritt: Rotorblattinspektion mit Infrarotbildern

An der nächsten Stufe des Systems arbeiten Jäger und Anders bereits. Das Ziel: Eine Infrarotkamera wird an den Wechselkopf des Moduls gesteckt, um Wärmebilder des Blattinneren aufzuzeichnen. „Damit wollen wir Lufteinschlüsse und Fehlverklebungen in der Glasfaser erkennen, die zu einer schnelleren Abnutzung des Materials führen. Da sind wir aber noch in der Testphase“, sagt Anders. Allerdings kann es von der Testphase bis zur Markreife recht schnell gehen: Zwischen der ersten Idee und der einsatzfähigen Sonde vergingen gerade mal 4 Monate. „Mit Know-how aus Bremen“, sagt Anders und ergänzt: „Das ist kein Zufall. Durch die Konzentration von Windenergieunternehmen ergeben sich hier immer wieder sehr gute Kooperationsmöglichkeiten.“


Mehr zu diesem Thema erfahren Sie bei

Kai Jäger, REETEC GmbH, Konsul-Smidt-Straße 71, 28217 Bremen, T +49 (0)421 39987-418, kai.jaeger@reetec.eu

oder bei Sebastian Anders, Gullyver – Gesellschaft für mobile Inspektionssysteme mbH, Richard-Dunkel-Straße 116, 28199 Bremen, T +49 (0)421 536735-6, s.anders@gullyver.de

Mehr zum Thema Windenergie erfahren Sie hier oder bei Dieter Voß, Clustermanager Windenergie, T +49 (0) 421 361-32175, dieter.voss@wah.bremen.de

oder bei Dr. Detlef Pukrop, Innovationsmanager Umweltwirtschaft, T +49 (0) 421 9600-346, detlef.pukrop@bab-bremen.de

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